CON_TEXT IX: The hairy goddess‘ misstory

Dienstag, 26. September 2017, 19-21 Uhr: Open doors working day (Eintritt frei)
Freitag, 29.September 2017, 20 Uhr: Final public presentation (Eintritt frei)

CON_TEXT IX: The hairy goddess‘ misstory

von und mit Érica Zingano, Tatiana Ilichenko, Marion Breton, Barbara Marcel, Tom Nobrega

Vorgestern. Wir trauern. Das 21. Jahrhundert ist gestorben, aber noch bereiten wir seine Beerdigung vor. Schau auf deine Hände, beide Hände. Auf der einen Hand liegt die Geschichte einer Apokalypse. Wie jede Geschichte über die Zeit, natürlich wird es in einer großen Klimax enden, bing bang, bow wow wow. Natürlich ist die Hauptfigur dieses Abenteuers Gott, der auf den Schultern seiner Armee verschlüsselter Engel steht. Auf der anderen Hand liegt die umgedrehte Version dieser Geschichte: diese können wir Revolution nennen. Eine Revolution, die als haarige Göttin reinkarnierte. Sie / er ist überall, überall fühlt sich so nah wie nirgendwo an. Immanent in unseren unordentlichen Rucksäcken, brüllend in unseren inneren Dschungeln. Diese Version ändert die Geschwindigkeit der Züge und Autos und Flugzeuge, durch die wir die Welt wahrnehmen. Wähle ein Wort und mache dich auf den Weg. Mysterium. Chaos. Rauch. Tiere. Magie. Zünde noch ein Streichholz an. Es ist eine fortlaufende Geschichte. Sie kommt in einem Päckchen, geliefert von DHL. Die Sonne ist das dritte Zeichen auf dem Weg. Einem langen Weg. An deiner Fingern Spitze.

Die Veranstaltungsreihe CON_TEXT vesucht das Format Lesung neu zu denken und zu thematisieren. Jeweils ein/e Autor/in und ein/e Künstler/in einer anderen Sparte erarbeiten gemeinsam eine Woche lang in der Lettrétage ein interdisziplinäres Veranstaltungsformat. TänzerInnen, MusikerInnen, Bildende und Darstellende KünstlerInnen sowie FilmemacherInnen sind die künstlerischen PartnerInnen der AutorInnen. Ausgehend vom literarischen Text entwickeln die KünstlerInnen-Tandems interdisziplinäre Formate und thematisieren dabei den Prozess der gemeinsamen Arbeit. Die so entstehende literarische Veranstaltung wird als ein eigenes, weit über die bloße Textpräsentation hinausgehendes, künstlerisches Werk begriffen. Die KünstlerInnen arbeiten ohne inhaltliche Vorgaben, der Prozess ist ergebnisoffen.

Insgesamt finden zehn Abendveranstaltungen und eine Abschlußkonferenz statt. Zu jeder Veranstaltung erscheinen vorab ein Interview mit einem Experten und im Nachhinein eine kurze filmische Dokumentation. Auf der Seite findet sich auch weitere Information zur Veranstaltungsreihe und zu den beteiligten KünstlerInnen und Veranstaltungsterminen.

 

CON_TEXT wird gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.


 

© Lotto Theißen

Érica Zíngano wurde 1980 in Fortaleza, Brasilien, geboren und lebt seit 2014 in Berlin. Ihre künstlerische Praxis übertritt Grenzen zwischen Lyrik und visueller Kunst in unterschiedlichen Richtungen. Als eine Frau, die sich tagtäglich mit fremden Sprachen beschäftigt und sich daher ständig in einem Zustand linguistischer Verrenkungen wiederfindet, hat Érica Zíngano eine Leidenschaft für das Phänomen der Stimme und hat zunehmend die Aussprache von Gedichten in performativen Aktionen und Lesungen untersucht. Während ihrer Zeit in Frankreich im vergangenen Sommer, wo sie die extremeren Aspekte der post-tuquetism Theorie in die Tat umsetzte, entdeckte sie den Poeten Christophe Tarkos, der schon auf sie gewartet hatte und in ihre Kopfhörer flüsterte:
“dans quatre mois et on est dedans“. „Immanenz: Ich denke es ist ein guter Tipp, keine Pläne, allem Anschein nach, keine Ziele, kein Gestöhne, sondern ein Überströmen von Geächze.“, schrieb sie in eines ihrer Notizbücher. Würden wir etwas mehr Zeit damit verbringen, in eines ihrer aktuellen Notizbücher zu schauen, würden wir vermutlich erkennen, dass sich ihre literarischen Interessen um die Kombination von Wörtern wie „Vibration“, „Körper“, „weiblicher Körper“, „Maschinen“, „Träume“, „Intensität“, „Sprachen“, „Partnerschaft“, „Verlangen“, „Gemeinschaft“, „Tierhaftigkeit“, „Kühlschrank“ und „Freundschaft“ drehen. Vielleicht merkt man, dass sie oft in Versuchung ist, dadaistische und surrealistische Dichtung mit zeitgenössischer Literatur zu kombinieren, oder vielleicht – anders ausgedrückt – könnten Sie festgestellt haben, dass sie bloß versucht zu sagen (um einen ihrer besten Freunde, Antoine Hummel, zu zitieren, der es auf Französisch sagen würde): „Guten Morgen an all die aktuellen Probleme der Welt“. Sie verbringt ihre Zeit häufig mit dem Versuch, eine ethische Brücke zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ zu entwickeln, die immer noch gebaut werden muss, irgendwo, irgendwie. Bolaño zu lesen ruft starke emotionale Reaktionen hervor – das “Reis-Interview” ganz besonders – aber man sollte auch „Putas asesinas“ erwähnen, usw., usw., usw.

© Moritz Metzner

Tatiana Ilichenko ist eine Künstlerin und Filmemacherin aus Russland, zurzeit lebt sie in Berlin.
Sie arbeitet mit Video- und Performance-Hybridformen und entwickelt Projekte mit doku-fiktionalen, ort-spezifischen und kollaborativen Ansätzen, in denen sehr persönliche Perspektiven und heterogene Stimmen auf polyphone Art zusammenkommen. Inhaltlich drehen sie sich um Artikulation radikaler Erfahrungen von Verlust, geschlechtsspezifischer Gewalt und Unterdrückung; Politik und Ethik der visuellen Darstellung; künstlerische Kollaboration; Liebe, Fürsorge und Empathie im Bereich der Politik und des Aktivismus; gesellschaftliche Utopien in einem post-kommunistischen Zustand; selbstorganisierte Gemeinschaften und Formen des Zusammenseins; Groteske, Feiern und Glamour als eine Form des Wiedererstands in marginalisierten und queeren Gemeinschaften.
Tatiana studierte Art in Context an der Universität der Künste in Berlin, bildende Kunst und Philosophie am Bard College Berlin, Film an der russischen staatlichen Filmhochschule in Moskau und beschäftigte sich intensiv mit Tanz, Performance und physischem Theater. Ihre Projekte wurden bereits in zahlreichen Institutionen sowie auf Kunst- und Performance-Veranstaltungen in Berlin und in Europa präsentiert. Zudem arbeitet sie regelmäßig für politische Dokumentarfilme und unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Organisation.

Marion Breton, Génération 90. Wohnhaft in Berlin und geboren in Paris unter dem Namen Marion – einem Namen, den ihr Großvater für ein böses Omen ansah: « Marion? Souillon », das heißt Tölpel! Als Antwort auf diese anfängliche Verwünschung nannte sie sich manchmal selbst Ablana Thanalba (Hocus Pocus auf Hebräisch), als ob sie die Welt verzaubern und sich auf einen gemeinsamen locus (im Lateinischen loci, loca, für Uterus) berufen müsste, in welchem sie ihr bestimmtes Wesen als sponge-actor entwickelt. Sie schluckt und verdaut alle Arten von Stimmungen und Materialien: Videos, Poesie, Texte und Schriften. Aber bei nochmaliger Überlegung wäre sie wohl eher ein Tölpel in ihrer Tonne; einer Tonne wo sie alle aufheben und –sammeln könnte, die sie auf ihrem Weg findet, und wo sie die Bedingungen eines unproduktiven Lebens, einer unermüdlichen Erneuerung der Trägheit, begreifen könnte.

 

© privat

Tom Nobrega spricht mit einem Akzent, selbst in seiner eigenen Sprache. Er nutzt zwei Hörhilfen, hat sieben Nägel aus Titan in seinem Knöchel, trägt Kontaktlinsen und drei künstliche Zähne. Er hat kein Zuhause, hat kein Handy und ist sich nie sicher, wo genau in der Welt er in den nächsten Monaten sein wird. Er wurde in Sao Paulo, Brazilien, geboren, hat jedoch mehr als nur einen Namen und eine Nationalität – die offiziellen, die emotionalen und die mythischen eingeschlossen. Er ist ein notorischer Reisender und macht eine Menge nicht direkt nützlicher Dinge wie zum Beispiel seltsame Äußerungen in einer nichtexistierenden Sprache, eine unglaubliche Menge an Gegenständen verlieren, Amulette finden, astrologische Kalender lesen, Gedichte schreiben, wiederholende Gesten machen und Musikinstrumente spielen, die er eigentlich gar nicht spielen kann. Gerade widmet er sich der Unknown University, einer mysteriösen Universität ohne festen Ort, die jeden seiner Schritte begleitet, selbst wenn er ihr gar keine Aufmerksamkeit schenkt.

 

© Julian Menand

Barbara Marcel (Rio de Janeiro, 1985) ist eine in Berlin lebende Filmemacherin und visuelle Künstlerin, deren Werke die Beziehung zwischen Natur, ihrer kulturellen Geschichte und ihrer kolonialen Imaginationen untersucht. Während ihrer künstlerischen Forschung im Rahmen ihrer Promotion an der Bauhaus-Universität in Weimar setzt sich Marcel mit Essay-Filmen als historiographische Medien für entkolonialisiertes Denken auseinander, wobei der Botanische Garten Berlin-Dahlem und seine Pflanzen gegenwärtig Gegenstand ihrer Studien sind.

Kürzliche Ausstellungen: Tropic Matters V240 Amsterdam (Einzelausstellung, 2017), Omonoia, Athens Biennial (2016); There will come soft rains, GMK Berlin (2016); Vision and Fear Station, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (2015); On Projection, Kühlhaus Berlin (2015); Through the looking screen, 175 Gallery Seoul (2015); Desvenda, Galeria Marta Traba – Fundação Memorial da América Latina, São Paulo (2013); Return to Forever, TZB Gallery of the Czech Centre Berlin (2013).