Daniela Seel im Gespräch mit Cia Rinne und Gernot Wieland

7 Tage, 2 Künstler*innen, 1 Ort: Im Rahmen des Projekts CON_TEXT erarbeiten jeweils zwei Künstler*innen innerhalb einer Woche in der Lettrétage gemeinsam eine Veranstaltung

Die Lyrikerin und Verlegerin Daniela Seel besuchte die CON_TEXT-Künstler*innen Cia Rinne und Gernot Wieland in der Lettrétage

Daniela Seel: Fangen wir vorne an: Wie habt ihr euch für die Zusammenarbeit miteinander entschieden[i], was hat euch aneinander interessiert?

Cia Rinne: Ich glaube, ich war sehr irrational. Ich mochte Gernot auf Anhieb gern und konnte mir gut vorstellen, mit ihm zusammenzuarbeiten – nur hatte ich im Gegensatz zu anderen möglichen Kooperationen gar keine klare Vorstellung davon, was wir machen könnten. Diese Offenheit ist eine Herausforderung, die ich sehr mag. Tatsächlich arbeiten wir anders, als ich es gewohnt bin – ich bin froh, dass wir einander kennengelernt haben. Das Auswahlverfahren war ambivalent; es war sehr schön, die verschiedenen Künstler*innen zu treffen, nur war dies gefärbt vom bevorstehenden Auswählen, eine menschlich heikle Angelegenheit.

Gernot Wieland: Ich finde auch, diese Bedingungen waren merkwürdig. Was ist, wenn alle zehn Künstler*innen mit Cia zusammenarbeiten wollen und keiner mit einer anderen Schriftstellerin, einem anderen Schriftsteller? Bei uns stimmte die Chemie einfach. Ich wüsste aber auch nicht, wie man das anders machen kann.

DS: Ende 2016 standen die Teams fest, Ende Januar 2017 müsst ihr schon präsentieren. Das ist ein fast irrwitziger Zeitplan.

GW: In der bildenden Kunst gibt es verschiedene Typen. Es gibt die, die ins Atelier gehen, sich den Blaumann anziehen und loslegen. Ich bin eher so ein Deadline-Künstler. Ich werde zu einem Projekt eingeladen, da gibt es ein Thema, eine Deadline, ich mach eine Arbeit. Das hilft mir.

DS: Aber ein Thema gibt es jetzt ja nicht.

GW: Nein, aber ich wusste das Datum, bis dahin muss was stehen. Ich arbeite mit Videos und Lecture Performances, und die Lecture Performances sind für mich ongoing projects, das heißt, ich schreibe die oft wieder um und adaptiere neu, und jetzt, weil es so kurzfristig war, hab ich eine vom letzten Jahr genommen, schreibe sie um, mach neue Zeichnungen, neue Kartoffeldrucke, Plastilinfiguren … Ihr lacht, aber Kartoffeldrucke ist The Next Big Thing! (lacht)

CR: Sie sind schön!

DS: Noch mal konkret: Ihr seid nur diese eine Woche zusammen, jeden Tag, und habt Ideen mitgebracht, was ihr miteinander machen könntet? Wie läuft euer Arbeitsprozess?

CR: Genau. Wir haben uns einmal vorab getroffen, im Dezember, um über unsere bisherigen Sachen zu sprechen. Wir haben also unsere Sachen mitgebracht, gelesen. Da Gernot schon eine recht klare Vorstellung von seinem Talk hat, habe ich meine Texte genommen und überlegt, was dazu passen könnte. Ich habe den „Dualog“ gewählt, Dialoge über den Dualismus. Wir haben beide mit Träumen gearbeitet, das wird vielleicht auch noch Teil der Arbeit. Das heißt ein Bogen von politisch-ökologischen Themen zu therapeutischen Settings und Kindheitserinnerungen.

GW: Es war ein bisschen wie Zwiebelschälen. Sich Material schicken, das durchlesen, überlegen, wie können wir uns treffen, wo kann die Kollaboration gut funktionieren? Und wir haben uns eben inhaltlich getroffen. Und entwickeln daraus eine Narration. Eine Arbeit.

CR: Gestern haben wir hier im Atelier gestanden und gezeichnet, und ich habe gedacht, was mache ich eigentlich, ich müsste an den Texten arbeiten. Du bist Künstler, ich schreibe, ich habe nur immer die Aufführung im Kopf, wir müssen doch lesen, proben; nun kam die Ebene der Bilder hinzu. Dieser Prozess ist für mich sehr interessant.

GW: Ich bin schon sehr zuversichtlich, dass die Performance gut wird. Dieses Projekt ist wirklich toll auf mehreren Ebenen. Zum Beispiel, dass ich als bildender Künstler mit einer Schriftstellerin arbeiten kann. Ich habe, bevor ich Künstler geworden bin durch einen dummen Zufall, Literatur studiert. Literatur war immer sehr wichtig für mich. Ich komme aus so einem kleinen Dorf ‒ es klingt jetzt alles so: „Oh Gott, kennt man ja“, aber für mich war wirklich Literatur ein Fenster zur Welt. Als ich an der Akademie studierte ‒ ich wollte nicht unbedingt Künstler werden, aber dachte dann, okay, ich bin angenommen, ich studiere das jetzt, denn ein Freund hatte unter meinem Namen eine Mappe eingeschickt, ich habe wirklich seit meiner Kindheit manisch gelesen und gezeichnet, und er hat immer gesagt, du musst Künstler werden, und dann bekam ich plötzlich so einen Brief, „Sehr geehrter Herr Wieland, wir freuen uns …“, und ich hatte eh keine Ahnung vom Leben, ich wusste nicht, was ich machen soll in meinem Leben. Andere wissen das ja schon früh, alle Schauspieler erzählen dieselbe Geschichte: „Ach mit sieben war mir schon klar, die Bühne, und meine Eltern mussten zuschauen, wie ich zu Hause …“ Ich kenne keinen Schauspieler, der nicht diese Geschichte erzählt. Und ich habe eben eher so eine nichtlineare Biografie. Ich war auf der Akademie der Einzige, der auch Gedichte geschrieben hat, und da gab es null Verständnis dafür damals. Heute ist das anders. Mittlerweile unterrichte ich auch, und man merkt, dass viele Studierende Schreiben in ihre Arbeiten integrieren. Das gab’s zu meiner Zeit nicht. Und jetzt gibt es wirklich dieses Bedürfnis, selbst zu schreiben. Das hat viele Ursachen, eine ist sicher die mediale Komponente, dass man sich seiner eigenen Realität versichern muss. Und wie kann man das? Indem man selber schreibt. Weil alles andere manipulativ ist oder manipuliert werden kann. Das ist für mich schön zu sehen, dass sehr viel mehr Künstlerinnen und Künstler schreiben. Nicht nur in Form von Videos, nicht nur in Performances, wo man oft ganz anders mit Sprache arbeitet, sondern wo es wirklich auch um Narrationen geht. Und auch von daher ist dieses Projekt toll für mich. Ich kenne ein paar Schriftstellerinnen und Schriftsteller, aber ich habe noch mit keinem zusammengearbeitet. Wie gehen die an einen Text heran? Mich interessiert dieses Anfangen. Ich hab das vorhin erwähnt, ich brauche immer eine Deadline, und dann habe ich keine Idee, dann rumort’s um mich, ich kann nicht schlafen, meine ganze Familie leidet, und irgendwann, zack! Wie das halt immer so ist. Und irgendwann geht dann die Post ab. Und darauf bin ich wirklich sehr gespannt, auch bei allen zehn Produktionen, wie gehen die Künstlerinnen und Künstler mit Sprache um und inwieweit lassen sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf etwas anderes als Sprache ein. Obwohl das bei uns beiden zum Beispiel ja eh schon gemischt ist und nicht so klar getrennt werden kann. Diesen Prozess beobachten zu können, darauf freue ich mich jedenfalls sehr.

CR: Ich werde nicht so viel schreiben können in der kurzen Zeit, das ist schon ein Problem. Ich hätte gern mehr Vorlaufzeit, um neuen Text zu schreiben. Nun entsteht die Produktion unter sehr großem Zeitdruck, aber auch das ist eben Teil der Erfahrung.

DS: Aus der Projektbeschreibung geht das nicht eindeutig hervor. Dort heißt es zwar, dass die Inszenierung als Kunstform ernst genommen werden soll und die Texte im Zentrum stehen, aber ob das Texte sind, die in der Zusammenarbeit neu entstehen, oder ob eher die Präsentationsform das neu zu Entwickelnde ist, bleibt offen. Mich interessiert dieser Zwittercharakter der Arbeit: Wenn man so frisch aufeinanderstößt wie ihr jetzt in dieser Woche, geht es ja zunächst darum, sich überhaupt erst einmal aufeinander einzulassen, auszutauschen, die Weltauffassungen ins Gespräch zu bringen. Und das scheint mir bei Kollaborationen auch der gewichtigere Teil, wichtiger als konkrete Produkte. Wie ihr es bisher beschrieben habt, geht es euch auch um künstlerische Selbsterfahrung, euch weiterzuentwickeln in eurem künstlerischen Schaffen. Wo kommt das Publikum hinein in diesen Prozess? Was ist der Raum, der mit der Inszenierung hergestellt wird, der Kontextualisierung?

CR: Das ist genau die Frage, die ich mir mit Tomomi Adachi, mit dem ich schon oft zusammengearbeitet habe, nach dem Speed-Dating gestellt habe. Legt man den Schwerpunkt darauf, eine sehr gute, professionelle Inszenierung anzustreben? Wir sind ja alle professionelle Künstler*innen und treten regelmäßig auf. Oder möchte man etwas Neues dazulernen? Welche Variante wählt man? Und ich bin eher am Neudazulernen interessiert. Worunter die „Inszenierung“ schon leiden könnte. Was ist also das Wichtige? Darum denke ich, dass unser Werkstattgespräch morgen Abend vielleicht eine geeignetere Form ist, da man gleichzeitig über die Arbeit reflektieren kann. Werkstattgespräch, offene Probe, Salon – die Form ist offener. Um eine wirkliche Kollaboration auf die Beine zu stellen, bedürfte es viel mehr Zeit. Nun werden wir als Ausgangspunkt Arbeiten haben, die sich bereits im Entstehen befinden. Auch das Kennenlernen braucht Zeit. Wir können uns nicht einfach treffen und los, so funktioniert das nicht.

GW: Mir hat mal ein Therapeut gesagt, dass er findet, dass jede persönliche Entwicklung nicht linear ist, sondern immer so geht ‒ (gestikuliert) ‒, zurück und wieder vor, im Weitergehen muss man auch immer wieder zurückgehen. Und so ist, glaube ich, auch unser Arbeiten. Und das genieße ich sehr. Ich weiß jetzt nicht, wie du, Daniela, das ‒ (gestikuliert) ‒ in Worte fassen willst (lacht) … Wir hatten dieses Bedürfnis, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Und das ist das Großartige an dem Projekt, dass man sich offenlegt und fragt, was können wir herausfinden. Auch was du gesagt hast über das Proben. Es gibt ja in der Kunst das Üben eigentlich nicht, und das sollte man mehr betonen. Ich mache keine Arbeit, ich übe jetzt was.

DS: Eine Zwiespältigkeit des künstlerischen Prozesses besteht darin, dass man in der Situation des Entstehens ganz intim ist, mit sich oder mit denen, mit denen man zusammenarbeitet, und in dem Augenblick, wo es veröffentlicht wird, ist man quasi nicht mehr man selbst, sondern wird diese Persona, und es entsteht eine Spannung zur Intimität des Entstehungsmoments. Bei einem Auftritt gibt es keine Intimität in der Weise, wie wenn ich mir zu Hause ein Video von dir anschaue oder einen Text von dir lese mit meiner Einbildungskraft oder wir hier zu dritt sprechen. Wie erlebt ihr das Ausstellen auf einer Bühne, was passiert in diesem Moment, auch wenn ihr mit euren Körpern dafür einstehen sollt?

GW: Ich bin daran gewöhnt und genieße das auch sehr, den performativen Charakter und die Interaktion mit dem Publikum. Das ist anders, als wenn ich einen Film mache. Ich muss das Publikum mitnehmen, berühren, manipulieren. Ich muss eine Geschichte, wie absurd oder unglaubwürdig sie auch ist, glaubwürdig erzählen, und das Publikum muss Teil der Geschichte werden, muss daran glauben. Wenn ich das geschafft habe, ist schon viel gewonnen. Ich muss mir also überlegen, wie gewinne, wie berühre ich dieses Publikum? Mit Humor, mit Melancholie … Das sind Elemente, mit denen ich stark arbeite, was sicher auch meiner Herkunft geschuldet ist. Dieses Tragikomische hat man einfach sehr stark in Österreich. Ich habe mich lange gewehrt, Österreicher zu sein, aber irgendwann habe ich es akzeptiert, hey, diese Elemente sind Teil meiner Geschichte, also arbeite ich damit.

CR: Meine Texte sind recht abstrakt, und doch spüre ich mein eigenes Gefühl für einen Text viel deutlicher, wenn ich ihn vor einem Publikum lese. So ist es häufig: Wir reden nicht unbedingt über das, was wir zeigen, das sind verschiedene Welten.

GW: Dass der Rahmen seitens der Lettrétage so offen gehalten wird, empfinde ich als Angebot: Macht, was ihr wollt. Was sehr angenehm ist. Denn oft sind die Rahmenbedingungen doch sehr eng, und man soll bestimmten Vorstellungen genügen.

© gezett.de

DS: Ich möchte eine Sache, die du gesagt hast, Gernot, vertiefen: das Publikum manipulieren.

GW: Das ist ein negativ konnotierter Begriff, vielleicht eher berühren.

DS: Ich denke, dass für die künstlerische Arbeit und gerade in der Auftrittssituation Affektgehalte enorm wichtig sind. Auch die emotionale Arbeit, das Publikum mitzunehmen, den Konzentrationsraum zu schaffen und zu halten, um das Publikum zu involvieren, sind wesentliche Teile der Performance. Und auch das, was am meisten Kraft kostet. Und gleichzeitig, und das ist im Manipulationsbegriff angedeutet, ist das etwas Gewaltförmiges. Dass du bis zu einem gewissen Grad bewusst damit arbeitest und die Leute dir ausgesetzt sind. Und aus der Gewaltförmigkeit dessen, was man mit den Gefühlen macht in der Narration, in dem Moment, erwächst eine andere Verantwortung, für das Publikum, für das Wohlergehen des Publikums. Wie geht ihr damit um?

GW: Das ist ein wichtiger Punkt. Wobei es auch Künstlerinnen und Künstler gibt, denen das total egal ist. In Wien habe ich einmal im Rahmen einer Ausstellung eine Performance einer russischen Gruppe erlebt, die darin bestand, Leute körperlich zu attackieren, zu ohrfeigen. Ich war dort mit einem Freund, der, nun ja, vom Land, als Typ eher rural, bis dahin noch nie bei einer Performance, geschweige denn in einer Großstadt war, und der hat dem Performancekünstler einfach eine zurückgehauen, dass die Performance damit zu Ende war, weil seine Performancefreunde auf einmal viel zu beschäftigt waren, einen Krankenwagen zu rufen … Und das ist wiederum das Tolle in Berlin: Die Leute sind einfach viel gewohnt. Wenn ich mit meinen Lecture Performances zum Beispiel in Italien auftrete, wo Leute noch im Abendkleid und Anzug zu einer Eröffnung kommen, trauen sie sich oft nicht zu lachen. Weil Kunst noch sehr viel auratischer wahrgenommen wird als hier in Berlin.

CR: Eine Bühne ist immer eine neue Situation, der man sich aussetzt. Während des Schreibens denke ich jedoch kaum daran. Der Text muss auf so vielen verschiedenen Ebenen funktionieren, im Buch, auf der Bühne, in der Ausstellung. Ich konzipiere nicht auf Reaktionen hin.

GW: Und der Aspekt des Gesprochenen. Wenn ich in Deutschland auftrete mit meinem österreichischen Akzent ‒ da kommt man schon anders rüber, ist meine Erfahrung. Und damit arbeite ich auch. Deshalb rede ich auch gern Englisch, weil Inhalte dann auf eine andere Art transportiert werden.

DS: Das wäre auch noch eine Frage, die ich an euch beide habe, weil ihr ja beide in Fremdsprachen arbeitet und das für mich eine Art Selbstentfremdung zu sein scheint, die noch mal eine andere Ebene in den Text einbringt, Gewöhnungen anders infrage stellt. Wenn du mit dem Englischen beispielsweise auf diese Reaktionen reagierst, nutzt du es quasi als Neutralisierungsinstrument.

GW: Eine Form von Nüchternheit, ja. Ich schreibe alle meine Texte auf Deutsch und transkribiere dann ins Englische. In der Kunst bist du bei vielen Panels, da schreiben Leute einen komplizierten kunsthistorischen Text, setzen sich hin und lesen den runter, und wenn du dich im Publikum umschaust ‒ nach zwei Minuten hört kaum einer mehr zu. Ich versuche bei meinen Lecture Perfomances, eine gesprochene Sprache zu finden. In der Kunst wird viel auf Englisch gesprochen, und das ist schon ein Mangel, weil wir in der Sprache sehr verarmen, wenn es nicht die Muttersprache ist.

CR: Ich schreibe schon auch gern auf Deutsch. Meine Gedichte, minimalistisch und in sich schon mehrsprachig, kommen aus den Sprachen selbst und wären in anderen Sprachen ganz einfach nicht möglich. Wenn ich Längeres schreibe, bleibe ich jedoch meist in einer Sprache.

DS: In deinem Video, Gernot, „‘Hello, my name is…‘ and…‘Yes, I´m fine.‘“ gibt es diese Stelle, dass für dich als Kind der beste Teil der Messe das Nichtverstehen gewesen sei, weil alles auf Latein oder Spanisch gesagt wurde und man da abdriften konnte in eigene Gedanken. Und das ist ja oft, was bei Kunst passiert ‒ ob ich ein Konzert anhöre oder eine Lesung, gerade bei Lyrik, oder auch bei Tanzperformances, kenne ich das sehr gut, dass es so ein Rein- und Rausdriften aus der Konzentration, aus dem Moment gibt und etwas aufgeht. Dass es enorm wichtig ist, dass die Stimme da ist, das Angesprochensein, aber was das Gehirn daraus macht, lässt sich nicht kontrollieren und steht in einem nicht rückführbaren Verhältnis zu dem, was gesagt wird. Was für die Künstler*innen, gerade für Autor*innen, vielleicht ein bisschen fucked ist, aber ja trotzdem fundamentaler Bestandteil der bereichernden Erfahrung von Kunst, von Lyrik.

CR: William Kentridge hat einmal gesagt, oder vielmehr, das hat er nicht so gesagt, ich gebe euch nur meine Version: Man macht eine Säule hier, eine Säule da, und den Zwischenraum füllt das Publikum aus. Wenn man alles ausfüllt, bleibt kein Raum, um selbst zu denken.

DS: Ich glaube, selbst wenn man einen Text konzentriert liest, oder ein ganzes Buch, und es ist komplex, liest man ja doch nicht das ganze Buch.

CR: Man liest auch immer anders.

DS: Und man ist aufmerksam auf verschiedene Partikel, verschiedene Leute lesen dasselbe Buch völlig anders, wenn man selber es wiederliest, erinnert man sich an Passagen, die nicht da sind …

CR: Das ist doch gerade schön. In dem Augenblick, wo man sich so stark auf etwas konzentriert, fängt man an, selbst zu denken. Ich merke häufig nach ein paar Seiten, ich habe gar nicht mehr darauf geachtet, was ich gelesen habe, sondern selbst angefangen zu denken, dann muss ich wieder zurückblättern. Oder im Film, in der Musik … Wenn man sich auf etwas konzentriert, kann man die eigenen Gedanken besser sammeln.

DS: Das ist ein guter Begriff, sich sammeln. Sich sammeln in der Konzentration auf etwas anderes.

CR: Ich habe den Eindruck, dass die Gedanken sich dabei ordnen im Kopf. Es ist ein ähnliches Gefühl, wie wenn man eine Kirche betritt, oder ein Museum. Dabei sammelt man sich. Oder wenn man ein klassisches Musikstück hört. Gegen die Fragmentierung und die tausend Zettel, Listen, Termine. Man konzentriert sich auf etwas, und die Fragmente verschwinden.

GW: Ich genieße es, wenn ich Musik höre oder einen Text lese, das mit meinen Tagträumen aufzuladen. Sigmund Freud hat das kontraproduktiv genannt, weil es einem eine Macht zugesteht, die man in Wirklichkeit nicht hat, man sich leicht als Held fühlen kann. Aber das Tolle an Tagträumen ist, man schafft sich auch Fixpunkte, wenn man abdriftet ‒ abdriften ist ja auch negativ konnotiert, wahrscheinlich ausschließlich in der deutschen Sprache … (alle lachen) ‒, man spricht verschiedene Sehnsüchte an. Wir haben vorhin gefragt, wie manipuliert man, aber im Grunde ist es auch Sehnsucht, die sich manifestiert. Und wenn man das schafft, wenn jemand mir nicht zuhört, aber sich in Tagträumen ergeht, dann habe ich schon auch etwas gewonnen, dann hat derjenige vielleicht eine besondere Erfahrung. Also man dockt an solchen Fixpunkten an und fragt vielleicht: Wo fängt meine eigene Erinnerung an? Vielleicht wirft man auch deswegen Bücher nicht weg, wenn man sie gelesen hat, weil man sie mit einer eigenen Erinnerung aufgeladen hat.

DS: Hat dieser Raum der Sehnsucht, der durch die Kunst entstehen kann, für euch auch utopisches Potenzial oder kritisches, ist es auch ein politischer Raum? Wenn ihr zum Beispiel sagt, Ökologie ist ein Thema, das ihr am Freitag verhandeln wollt.

CR: Ja, obwohl das nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Der „Dualog“, den wir für die Aufführung inszenieren, befasst sich mit den Ursachen der ökologischen Entwicklung. Hans Jonas, dem deutsch-jüdischen Philosophen, zufolge ist es vor allem der Dualismus, der die „Entitäten“ aufgespalten hat ‒ in Welt und Seele, Mensch und Natur, Körper und Geist, das Aufeinandertreffen von Athen und Jerusalem, also das Zusammenwirken von Philosophie und jüdisch-christlicher Religion, die die Voraussetzungen geschaffen haben für das, was wir heute vorfinden: die Abwertung der Natur, die Aufwertung des Menschen und den letztlich ökologisch katastrophalen Zustand der Erde. Eine lange Entwicklung, mit deren Resultaten wir jetzt leben. Und im „Dualog“ debattiert nun der Mensch mit der Natur, die Seele mit dem Körper, die Religion mit der Philosophie … Jede dieser Schlüsselfiguren spricht für sich, niemand hat recht.

DS: Und für dich ist das auch ein Ort des Engagements, inhaltlich?

CR: Es ist vielmehr ein Bestreben, zu verstehen, und ich versuche auch, dieses Suchen von der philosophischen Arbeit her in ein leichter zugängliches, dialogisches Format zu übersetzen.

GW: Mir scheint die Kunst oft wie der letzte „reine“ Rückzugsort des Kapitalismus. Man ist oft wahnsinnig frustriert von diesen Verhältnissen. Das wichtigste Kunstereignis ist nicht mehr die documenta oder die Biennale in Venedig, sondern die Art Basel. Und ist es deswegen geworden, weil Geld so eine große Rolle spielt. Man soll das auch nicht dämonisieren, aber wenn du auf eine Messe gehst, wo 35.000 Produkte angeboten werden, und du hast einen Tag Zeit, dann verändert sich natürlich der Blick. „You see it ‒ you get it.“ Und ganz viele Ausstellungen sind so geworden. Diese Frustration teile ich mit vielen. Deswegen wäre ich sehr vorsichtig, mich in Schlagworten zu verorten. Ich bin ein politischer Mensch und ich spreche politische Dinge an, aber ich würde das nicht explizit behaupten.

CR: Ich denke auch da wieder: Wenn man sich auf die Arbeit konzentriert, wird man ja sehen, in welche Richtung es geht. Der Ansatz ist nicht: Ich möchte politisch arbeiten. Sondern ich interessiere mich für einen Themenkomplex, und dann wird es politisch oder nicht. Bzw. wird es ohnehin politisch, weil man dem gar nicht entgehen kann. Genauso braucht man das Schöne, den Rückzug, was einem guttut, gerade auch in solchen Zeiten, für Gedanken, und einfach dass nicht alles verpestet ist von der Verfassung der Gegenwart, in der wir uns befinden.

DS: Ich war letzte Woche in einem Uniseminar, um über meine Gedichte zu sprechen, und da hat einer der Studierenden eine Frage gestellt, die mich nicht mehr loslässt und die ich an euch weiterreichen möchte, weil ich in euren Arbeiten ähnliche Verfahren sehe ‒ und vor dem Hintergrund dieser neuesten Trump-Entwicklungen wird es noch virulenter ‒, nämlich danach, was der Status von Fakten in meinen Gedichten sei. Weil ich eben auch mit historischen Schichten arbeite, mit wissenschaftlichen, mit verschiedenen Narrationen, und was passiert, wenn sich der Status der Tatsache ändert, zum Beispiel weil die Wissenschaft sich entwickelt, mit dem Gedicht, wie verhält sich überhaupt die „äußere Tatsachenwelt“ zur Kunst. Und jetzt, wo dieses unglaubliche Stichwort der alternativen Fakten aufkam, hab ich noch einmal vertiefter darüber nachgedacht, über die ganze Misslichkeit dieser Situation, weil das ja im Grunde seit Jahrzehnten ein künstlerisches Verfahren ist, Fakten anders einzubauen in die Kunst und damit anders umzugehen und bestimmte Narrationen, zum Beispiel von Foucault her gedacht, oder Ordnungen von Systemen zu hinterfragen und zu irritieren. Und jetzt kommt die Politik und nimmt dieses Verfahren ganz explizit, und plötzlich wird klar, dass ganz viele dieser künstlerischen Positionen, obwohl sie bestimmte Weisen, die Welt zu sehen, auch irritieren ‒ bzw. das wäre meine Frage ‒, doch auf einem gemeinsamen Grundkonsens ansetzen einer liberalen, rechtsstaatlichen Weltwahrnehmung. Und nur weil diese Grundparameter geteilt werden, funktioniert das überhaupt, dass man diese Infragestellung in der Kunst thematisiert und Fakten verschiebt. Und jetzt, wo das so propagandistisch eingesetzt wird und diese Grundparameter selbst infrage gestellt sind, gibt es, glaube ich, Rückwirkungen auch auf die Kunst, die mit solchen Verfahren arbeitet, oder es ändert noch mal den Status dessen, was in der Kunst verhandelt wird, auf unglaublich komplizierte und noch kaum absehbare Weise, was ja auch gerade erst anfängt. Das möchte ich also gern an euch zurückspielen, weil ihr auch mit ähnlichen Dingen umgeht.

GW: Das ist eine sehr gute Frage.

CR: Ja, das ist interessant, auch ob die Kunst vielleicht die Politik inspiriert. Und ob die Methoden plötzlich infrage gestellt sind. Weil die Methoden, die eigentlich dazu da waren, zu kritisieren, zu kommentieren, in der Politik angewandt, obwohl sie dort eigentlich unzulässig sind, auch für die Kunst problematisch werden. Ich denke, dass es in dem Sinne nicht zulässig ist, Methoden von einem Feld in einem anderen anzuwenden. Ein wenig erkenne ich die Fragestellung aus meiner dokumentarischen Praxis wieder. Im dokumentarischen Schreiben muss sehr viel Recherche betrieben werden, man schreibt über die Wirklichkeit, über Menschen, für die es Konsequenzen haben kann, was über sie, ihre Geschichte oder deren Lebensumstände geschrieben wird. Ich habe immer eine enorme Verantwortung gespürt und brauchte einen Gegenpol, die Poesie, sozusagen als freie Zone. Aber jeder Text, auch die Kunst, trägt Verantwortung und müsste zur Rechenschaft gezogen werden können. Man kann sich die Wissenschaft nicht einfach zusammendichten oder Naturgeschehen umdeuten.

DS: Naja, kann man scheinbar eben doch.

CR: Aber ist es zulässig, nur weil man es kann? Nur weil es möglich ist, muss es deshalb getan werden? Das ist ja einer der Grundkonflikte im Atomzeitalter. Oder: Es wird zu Propagandazwecken funktionieren, aber nicht das Verhalten der Natur ändern, sie folgt anderen Gesetzen. Wir sehen uns ja nicht selbst, man kann immer nur von außen betrachten, und dann muss man sich auch selbst infrage stellen: Kann ich mich auf das verlassen, was ich hier höre? Wenn man Wissenschaftler fragt, die Spezialisten in einem Feld sind, werden sie einem sagen, dass es in fast jedem Artikel Verzerrungen gibt, falsche Fakten, eine eigene Agenda, Klischees. Aber wenigstens kann man mit dem Finger draufzeigen. Viel schlimmer ist diese treppenstufenartige, kaum merkbare Gewöhnung daran. Wir sind negativen Meldungen ausgesetzt, bekommen ständig das Gefühl vermittelt, es sei ohnehin alles zu spät. Viel wichtiger wäre, nicht alternative Fakten, sondern alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

GW: Ich glaube, es hat damit zu tun, dass man leichter verdauen kann, was eigene Vorurteile bestätigt. Bei positiven Nachrichten musst du dich mehr anstrengen.

CR: Aber positive Nachrichten sind so wahnsinnig inspirierend. Es gilt als kritisch, wenn man Sachen negativ kritisiert, aber man wird davon auch negativ belastet.

GW: Ich arbeite, wenn du so willst, auch postfaktisch. Ich lüge, dass sich die Balken biegen. Aber man kann auch durch eine Lüge eine höhere Wahrheit erzählen, das ist wichtig. Deswegen arbeite ich nicht ausschließlich mit Sprache, sondern auch mit Bildern. Ich finde Sprache in meiner Arbeit zu exklusiv. Zum Beispiel kann ich Absurditäten durch Sprache schlecht erzählen, aber ich kann sie durch Bilder erzählen. Für mich war es eine wichtige Erfahrung als Künstler, dass, wenn man Leute mit einer Fiktion oder mit einer Wahrheit konfrontiert, die Leute nur bei der Wahrheit sagen: Das kann doch nicht möglich sein. Diesen Ausspruch hörst du bei einer Fiktion nie. Und das ist sehr interessant, dass dieses Erstaunen nur eintritt, wenn du mit Wahrheitsgehalt konfrontiert wirst. Und ich finde, postfaktisch sollte durch einen sehr altmodischen Begriff ersetzt werden, nämlich den der Lüge. Es ist Lüge. Punkt. Die Frage ist nur, wer lügt und zu welchem Zweck. Ich habe andere Ideen hinter meinen Lügen oder andere Absichten.

CR: Deine Lügen sind ja auch nicht gefährlich. Im Gegenteil.

GW: Will ich aufdecken, will ich zum Denken anregen oder will ich zudecken?

CR: Es kommt darauf an, wie man das einsetzt. Zum Beispiel historische Romane zu schreiben, die völlig verkehrt sind, rassistisch, das ist problematisch. In der europäischen Literatur sind die Roma jahrhundertelang als sensuell, freiheitsliebend oder kriminell beschrieben worden, und das ist sehr problematisch, da es tiefgreifende Konsequenzen für die Roma hatte und noch immer hat.

GW: Es ist auch die Frage: Was ist die Quelle der Wahrheit. Ich war in Österreich unterwegs, als dieser Tarantino-Film herauskam, „Inglorious Basterds“, amerikanische Soldaten Hitler erschießen. Mir hat damals ein Lehrer erzählt, dass das viele Schülerinnen und Schüler tatsächlich geglaubt haben, und er große Anstrengungen machen musste, ihnen das Gegenteil, nämlich die Wahrheit beizubringen (lacht). Also welcher Quelle traut man jetzt. Wie ich aufgewachsen bin, in den 70er Jahren, hat man das, was im Fernsehen erschien, geglaubt. Unsere Schulklasse, ich war 14 oder 15, ist einmal zum Bundespräsidenten eingeladen gewesen und ich bin dabei eingeschlafen, weil die Diskussion so langweilig war. Ich wollte einfach nicht. Wir wurden so extrem manipuliert, so auf Offenheit und „jetzt fragt die Jugend“, die ja am Puls der Zeit ist ‒ das finde ich auch in der Literaturkritik immer ein extremes Problem, diese Am-Puls-der-Zeit-Autorinnen und -Autoren ausfindig machen zu müssen.

CR: Ja, ein ewiges Jetzt.

GW: Aber die Bundespräsidentendiskussion ist gefilmt worden und kam dann im Fernsehen. Und ich sitze mit meiner Familie zu Hause und dann sehen die, dass ich da schlafe. Und in meiner Lecture Performance erzähle ich darüber eine Geschichte. Dass die Leute in meinem Dorf das sehen und alle einschlafen, weil sie glauben, das macht man. Man glaubt diesem Wahrheitsgehalt und man imitiert das. Alles, was man sieht, versucht man zu imitieren. Imitation ist überhaupt ein wichtiger Punkt, was imitiert man? Als ich ein Kind bekommen habe, habe ich zum Beispiel gemerkt: Hoppla, das ist ja nicht meine Sprache, wenn ich erziehe, das ist ja die Sprache meiner Eltern, und deren Sprache ist wieder die von deren Eltern, und deren Sprache ist wiederum geformt durch die Gesellschaft, und wen imitiere ich jetzt zu welchem Zweck, was ist meine eigene Sprache. Das war auch interessant, als das mit der FPÖ begonnen hat. Es gab einen Wahlforscher, der hat vor jeder Wahl in Österreich ein Kuvert abgegeben, drei Tage vorher, mit den genauen Ergebnissen. Die haben immer gestimmt bis auf die erste Prozentzahl nach dem Komma. Und er hat dann aufgehört, weil Leute angefangen haben, ihn anzulügen. Sie haben gesagt, sie wählen SPÖ oder ÖVP oder dadada, haben dann aber FPÖ gewählt. Und so ähnlich ist es heute. Man kann diese Leute emotional nicht mehr erreichen. Und das ist auch ein Versagen der Linken. Weil die Einzigen, die sozusagen eine Politik der Gefühle betrieben haben, waren die Rechten. Die ganze Ausländerdebatte ist eine rechte Debatte, weil die Linke sich dem lange verweigert hat. Wenn du das nur in den Mund genommen hast, warst du schon ein Rechter. Die ganze Sprache in der Ausländerdebatte ist zu einer rechten Sprache geworden. Und dass es so geworden ist, ist ein großes Problem und ein Versagen der Linken. Ich bin kein Politiker, ich habe keine Antwort auf das Postfaktische der rechten Leute, wenn es offensichtlich gelogen ist. Bei einem Schüler, der sagt, die Amerikaner haben Hitler umgebracht, wüsste ich, wie man arbeitet. Aber ich glaube, Erwachsene werden nicht mehr durch Wahrheit überzeugt, sondern durch etwas anderes. Und das ist ein Problem, das gerade erst anfängt.

DS: Wir können es noch nicht überblicken, aber doch befragen in Bezug auf die eigene Praxis, auf die eigene Reichweite. Gerade wenn man sagt, man ist ein politischer Mensch, man hat ein politisches Interesse, dann kann es einem ja auch nicht genügen, immer nur in der gleichen Blase Kunst zu betreiben. Oder doch? Also was erhofft man sich dann eigentlich von seinem eigenen Tun? Das wäre eine Frage, um das zurückzubrechen auf den Freitagabend.

GW: Ich glaube, du hast jetzt schon die Antwort gegeben: Wir können darüber sprechen oder wir können etwas machen. Du kannst über Dinge sprechen, und das ist auch okay, aber das genügt nicht. Man muss selber Dinge in die Hand nehmen, nicht nur unter Freunden diskutieren und dann nichts tun.

CR: Ich war oft versucht, das Schreiben aufzugeben und für eine Hilfs- oder Menschenrechtsorganisation zu arbeiten. Aber ich habe schnell gemerkt, wie frustrierend das ist, Vorurteile und Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, die mir immer wieder begegnet sind, auf Reisen in Ungarn, Rumänien, Griechenland, Frankreich. Es war leider keine große Überraschung, dass Europa einen Rechtsruck gemacht hat. Ich denke, die Schwachen und die Minderheiten bekommen solche Stimmungen zuerst zu spüren – und die, die für ihre Rechte arbeiten. Die russische Menschenrechtsorganisation, die mit Roma, sexuellen Minderheiten und Migranten arbeitet und die uns auch bei unseren Recherchen unterstützt hat, wurde mehrmals bedroht und ist mittlerweile nach Brüssel emigriert. Ich habe auch für Zeitungen geschrieben, was an sich nicht desillusionierend war, nur ist es auch auf die Dauer nicht unbedingt zufriedenstellend. Wenn man wirklich etwas verändern will, muss man, wie Katarina Taikon, die schwedische Roma-Aktivistin sagte, bei den Kindern beginnen, in der Kinderliteratur, in den Schulen. Danach ist es mühsam. Mit der freiwilligen Arbeit bei einer Menschenrechtsorganisation habe ich erst begonnen, als das dokumentarische Arbeiten so gut wie abgeschlossen war. Vielleicht brauche ich immer eine Art Balance.

GW: Ich bin auch so aufgewachsen. Ich habe Abitur gemacht und in Unter- und Oberstufe hat mein Geschichtsunterricht jeweils geendet mit der Ermordung des Thronfolgers. Ich hab in der Schule nicht einmal das Wort Shoah gehört. Oder Gaskammer. Das war Österreich der 80er Jahre. Das hat sich mittlerweile deutlich geändert, aber vorher hatte man das völlig verdrängt. Deshalb arbeite ich so gern mit Erinnerung. Da merkt man, in welchen machtpolitischen Verhältnissen man sich bewegt. Erinnerung hat sehr viel mit Machtverhältnissen zu tun. Welche Erinnerungen schaffe ich an mein „Vaterland“? Das ist so ein großes Thema bei allen rechten Parteien. Ich bin aufgewachsen nahe der tschechischen Grenze, umgeben vom Eisernen Vorhang, aber es war, als wäre er nicht da. Man hat das ausgeblendet. Und jetzt diese Selbstverständlichkeiten, dass ich als bildender Künstler überlegen kann, okay, ich wohne schon so lange in Berlin, gehe ich vielleicht für ein, zwei Jahre mal nach Brüssel oder nach London, das gibt’s vielleicht in Zukunft gar nicht mehr. Diese Wahlmöglichkeiten und auch dieses Selbstverständnis.

CR: Es ist wichtig, sich an die Verantwortung zu erinnern, die man hat.

GW: Ich habe kürzlich von einem Therapeuten gelesen, der Menschen mit Depression die Aufgabe gibt, jemandem zu helfen.

CR: Ich habe das oft gedacht, wenn ich von Reisen zurück nach Europa kam, es ist wie eine Glaskugel, alle sind so mit sich selbst beschäftigt, vor allem in der Kunstwelt. Die Aufenthalte bei Menschen, die in anderen Lebenswirklichkeiten leben, können alles ganz schnell wieder in Perspektive rücken.

GW: Obwohl das Helfen natürlich auch eine dunkle Seite hat, Erwartungen, Ego.

CR: Vielleicht sollte man Erfolg durch Sinn ersetzen, auch im Selbstanspruch. Sinn stiftende Arbeit zu machen, egal ob in künstlerischem oder anderem Rahmen.

GW: Und genau das wiederum tun auch die Rechten, in einer Emotionalität, der man sich verweigern muss, weil man weiß, wohin sie führt. Das zu beantworten, ist eine große Aufgabe. Aber wie schon John Lennon gesagt hat: Love is the answer …

CR: Jetzt hab ich verstanden: Love is a dancer.

GW: Siehst du, das ist wieder mein österreichisches Idiom.


[i] Alle an CON_TEXT Beteiligten bekamen von der Projektleitung zur Vorbereitung Material zu allen Teilnehmenden und konnten bei einem gemeinsamen Vorbereitungstreffen und „Speed-Dating“ im Herbst 2016 live am Tisch oder per Skype 15 Minuten miteinander sprechen, dann Wechsel. Anschließend sollte jede*r die Namen der drei Autor*innen/Künstler*innen an die Projektleitung schicken, mit denen er/sie am liebsten zusammenarbeiten wollte. Aus diesen Wunschlisten hat die Projektleitung die Teams gebildet.