Dreidimensionale Literatur: Im Gespräch mit Daniel Malpica und Tomomi Adachi

Interview: Florian Neuner

Als ich am Pfingstsonntag in die Lettrétage komme, arbeitet dort ein 3D-Drucker. Die Geräusche des Geräts werden mit einem Mikrophon abgenommen und verstärkt. Es fiept und faucht wie in der Kommandozentrale eines Raumschiffs aus den sechziger Jahren. Am Ende des Gesprächs wird das Produkt fertig gedruckt sein: ein wenige Centimeter hohes, gelbes Etwas, das man auf den ersten Blick für ein futuristisches biomorphes Architekturmodell halten könnte. Auf den zweiten Blick ist ein der Struktur verborgenes X erkennbar.

Florian Neuner: Seid ihr euch bei dieser Speeddating-Aktion in der Lettrétage das erste Mal begegnet oder kanntet ihr euch schon vorher?

Tomomi Adachi: Daniel hat an dem Speeddating nicht teilgenommen. Wir haben über Skype das erste Mal miteinander gesprochen. (Anmerkung der Redaktion: Daniel Malpica nahm – wie alle auswärtigen Künstler*innen – via skype am speed dating teil.)

FN: Was war der Ausgangspunkt eurer Zusammenarbeit? Welches gemeinsame Interesse habt ihr entdeckt?

Als Antwort legt Tomomi Adachi ein großes X aus Plastik auf den Tisch.

Daniel Malpica: Das ist meine Obsession mit dem X!

TA: Zu Beginn hatten wir nur das X als Ausgangspunkt. Daniel erzählte, dass er viel mit diesem Buchstaben arbeitet. Das führt schnell zu der Frage, wie wir diesen Buchstaben aussprechen sollen. Ich interessiere mich sehr für den japanischen Dadaismus aus den zwanziger Jahren, und da gibt es dieses Stück Lautpoesie von Hide Kinoshita, das für mich sehr wichtig ist: Voice Sound Poetry Form Begun with -X-. Deshalb habe auch ich eine besondere Beziehung zum X. Wir wollten also irgend etwas rund um das X machen.

DM: Ich arbeite jetzt schon seit einigen Jahren an einem Buch, das den Titel Mit X geschrieben trägt. Ich habe ein spezielles Interesse an diesem Buchstaben entwickelt. Im Spanischen gibt es das Wort cima, das bedeutet Gipfel. Sima mit s wiederum bedeutet Erdloch. In dem Buch zeige ich, dass das X der Punkt ist, an dem cima und sima zusammentreffen. Und wenn man mit den Lauten c und s spielt, kommt auch ein X heraus.

Ich schreibe auf Spanisch, mein Hintergrund ist Mexiko. Das X ist auch in Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte interessant. Als das lateinische Alphabet nach Mexiko importiert wurde, adaptierten viele indigene Sprachen das X. Ich benutze diesen Buchstaben, um ganz unterschiedliche Dinge zu behandeln. Ich entwickle auch graphische Partituren, die von Musikern interpretiert werden sollen. Ich hatte gleich den Eindruck, dass ich mit Tomomi arbeiten sollte!

FN: Wie würdet ihr eure literarischen Arbeitsfelder beschreiben? Tomomi, ich weiß, dass du – neben anderem – auditive Literatur schreibst und interpretierst.

DM: Ich bin Autor, aber ich bin auch Graphikdesigner. Deshalb mischen sich bei mir Literatur und Graphik. Man kann also von visueller Poesie sprechen. Ich lebe in Finnland und organisiere dort auch multimediale Literatur-Veranstaltungen. Wir bringen viele Sprachen, Musiker und Autoren zusammen. Das hat durchaus eine experimentelle Dimension.

FN: Welche Art von Aufführung, Performance oder Ausstellung erarbeitet ihr hier im Moment?

TA: Unser Gedankenaustausch begann vor ein paar Monaten. Mein erster Gedanke war, etwas mit 3D-Druck zu machen. Damit habe ich bisher noch nicht viel Erfahrung, aber ich wollte mich damit beschäftigen und so etwas wie dreidimensionale Literatur kreieren. Dazu benötigt man dreidimensionale Zeichen. Ich dachte, das passt auch irgendwie zu X, denn X kann schließlich alles bedeuten. Ich schrieb also eine Mail an Daniel. Er war einverstanden. Es stellte sich heraus, dass er sich auch in seinen Texten mit den verschiedenen Dimensionen beschäftigt.

DM: Diese Origami-Sachen …

TA: Das hat mich interessiert.

DM: Es gibt ein Gedicht von mir, das die Anleitung zum Falten eines Origami-Objekts enthält. Dahinter steht auch die Idee einer dreidimensionalen Literatur.

TA: Wir hatten ein Budget zur Verfügung. Und ich dachte, wir sollten damit einen 3D-Drucker anschaffen. Das zweidimensionale Drucken wurde im 15. Jahrhundert erfunden. Jetzt können wir endlich dreidimensional drucken! Wir entwickeln neue Buchstaben. Das ist irgendwie auch eine Pfingst-Geschichte!

Ausserdem haben wir einen Aufruf gestartet und Performer gesucht. Ich arbeite bei meinen Projekten gerne mit sogenannten normalen Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund. Für dieses Projekt hier fand ich es wichtig, möglichst viele Sprachen einzubringen, weil es ja um das X geht. Wir entwickeln diese neuen Zeichen, die Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen benützen können. Also haben wir sieben Leute gesucht, die verschiedene Sprachen sprechen. Wir erarbeiten mit denen am Dienstag eine Performance, die Stimme und Bewegung einschließt – auch die Bewegung des Druckers, der ein wichtiger Teil der Performance sein wird. Er oder sie – ich weiß es nicht – schreibt gerade. Das ist eine Schreibbewegung.

FN: Welche Sprachen bringen eure Performer ein?

TA, DM: Japanisch, mexikanisches Spanisch, Französisch, Deutsch, Niederländisch und Portugiesisch.

DM: Ich verwende Übersetzungen meiner Gedichte in verschiedene Sprachen. Ich hatte die Möglichkeit, einige meiner Gedichte ins Schwedische, Finnische Englische und Deutsche übersetzen zu lassen. Ich schreibe sie auf Spanisch. Wir können also diese Fassungen verwenden. Unter unseren Performern ist sogar ein Opernsänger. Ich bin sehr gespannt!

FN: Diesen Druckvorgang könnte man ja auch als einen Übersetzungsprozess beschreiben. Ein Konstruktionsplan wird in ein dreidimensionales Objekt übersetzt.

DM: Der Drucker sieht kompliziert aus, aber er ist in Wirklichkeit ziemlich primitiv!

TA: Ich denke, was da entsteht, ist ein Text, eine neue Art von Text.

DM: Das Naheliegendste sind ja erst mal Objekte, die wie Architekturmodelle aussehen. Aber jetzt fügen wir auch Text in die Entwürfe ein. Wir stellen auch fest, dass der Drucker seine eigene Sprache hat. Die versuchen wir zu erkunden. Zuerst mussten wir uns natürlich in die Software einarbeiten. Aber uns interessieren auch die Geräusche der Maschine.

FN: Diese Technologie ist für euch beide neu?

TA: Vollkommen neu.

DM: Da ich als Graphikdesigner arbeite, habe ich mich natürlich grundsätzlich mit Druckprozessen beschäftigt.

TA: Wir haben einen Bausatz bekommen, und ich habe das Ding in den letzten beiden Wochen vor Daniels Ankunft zusammengebaut. Das war ganz schön schwierig! Es gibt eine Bau-, aber keine Bedienungsanleitung. Daniel hat sich die Software dann aber in kürzester Zeit angeeignet.

DM: Ich kenne mich natürlich mit Design-Plattformen aus. Ich finde, das lässt sich intuitiv ganz gut handhaben. So haben wir viel Zeit gespart

FN: »Think big, make bigger« steht auf der Bedienungsanleitung.

DM: Also wirklich groß sind die Produkte ja nicht …

FN: Wer kauft solche Geräte?

TA: Ich!

FN: Wozu werden die normalerweise verwendet?

TA: Ich denke, in der Produktentwicklung, um Prototypen herzustellen. Und natürlich in der Architektur. Mit 3D-Druckern werden aber auch Waffen hergestellt.

DM: Diese Dinge sind gerade sehr populär. Ich sehe darin eigentlich keinen praktischen Nutzen. Vielleicht ist der Hype auch bald wieder vorbei.

FN: Welche Art von Objekten wollt ihr mit dem Drucker herstellen?

TA lacht.

© Evgeny Revvo

DM nimmt ein Objekt in die Hand: In diesem hier z. B. kommt das X positiv und negativ vor. Das ist ein Spiel mit geometrischen Formen, mit Buchstaben, mit dem X. Es geht aber auch darum, wie Dinge ineinander übergehen. Was passiert, wenn wir Text in diese dreidimensionalen Strukturen hineinbringen?

TA: Während der Performance wollen wir ein Schriftzeichen, ein Objekt ausdrucken. Wir müssen noch sehen, wie wir das machen.

FN: Wie lange dauert es, so ein Ding auszudrucken?

TA: Eineinhalb bis zwei Stunden.

FN: Würdet ihr das als visuelle Poesie beschreiben?

DM und TA unisono: Ja, sicher!

DM: Am Ende gibt es ein Objekt als Resultat. Selbst wenn die Maschine kollabieren sollte, wird irgendein dreidimensionales Objekt übrigbleiben. Es ist ein interessanter Gedanke, dass Literatur diese dritte Dimension haben kann

TA: Wir legen keine Bedeutung hinein, aber es werden letztlich Worte dabei herauskommen, Text.

FN: Wollt ihr hier eine Ausstellung mit diesen Objekten einrichten?

TA: Wir sind nicht sicher. Eine Performance wird aber auf jeden Fall stattfinden.

FN: In der CON_TEXT-Reihe geht es darum, neue Formen der Präsentation und Vermittlung von Literatur zu entwickeln und zu erproben. Wie sieht euer Zugang dazu aus? Welche Erfahrungen mit unterschiedlichen literarischen Veranstaltungsformaten habt ihr bisher gemacht?

DM: Ich bin mit unkonventionellen Arten der Literaturvermittlung durchaus vetraut, aber vielleicht aus einer etwas anderen Perspektive. Als Autor hatte ich oft die Gelegenheit, mit Künstlern und Musikern zu kooperieren und so Barrieren zwischen den Disziplinen ein Stück weit zu überwinden. Ich würde das aber immer als Literatur bezeichnen. Die andere Perspektive ist die des literarischen Aktivisten: Als Produzent und Vermittler bin ich in Finnland mit Autoren mit ganz unterschiedlichem Hintergrund konfrontiert, die in verschiedenen Sprachen schreiben. Wie kann man ihre Arbeit präsentieren, ihre Texte übersetzen? Das Projekt, im Rahmen dessen ich mich mit diesen Fragen beschäftige, heißt Sivuvalo. Wir organisieren Publikationen und Veranstaltungen. Wir bringen die vielsprachigen Autoren mit Künstlern, Designern und Musikern zusammen. Wir lassen Texte übersetzen und projizieren sie bei Veranstaltungen. Das ist mein Zugang zu unvonventionellen Formen der Literaturvermittlung.

TA: Wenn man die Formen der Vermittlung erneuern will, dann muss das mit einer Erneuerung der Inhalte verbunden sein. Der Ausgangspunkt ist ja zunächst mal die zweidimensionale Literatur, die konventionelle Sinnproduktion. Jetzt haben wir aber eine neue Technologie, und deshalb muss die Literatur erneuert werden. Das ist die größte Umwälzung seit Gutenberg! (lacht)

DM: Das Resultat, das Projekt als eine Erscheinungsform Literatur ist für uns interessanter als die Präsentation. Die wird ja auf jeden Fall stattfinden. Es wird Publikum anwesend sein, und die Leute werden einen Eindruck von diesem Projekt gewinnen.

FN: Was bedeutet es, dieses Projekt im Literatur-Kontext zu placieren? Was wäre anders, wenn das in einem Kunstraum oder im Rahmen eines Musikfestivals stattfinden würde?

TA: Für mich gehört dieses Projekt wirklich in einen Literatur-Kontext, denn es geht schließlich um Schriftzeichen. Poesie kann alles sein. Man muss sich bloss ansehen, welche Möglichkeiten die Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts bereits ausgelotet haben!

DM: Das erste Gedicht war die Zeichnung einer Hand in einer Höhle, also visuelle Poesie. So etwas als Literatur zu betrachten eröffnet die Möglichkeit, Sprache und Kommunikation abstrakter zu fassen, nicht so eng an konkrete Bedeutung gebunden. Für mich gehört diese Performance eindeutig in den Literaturzusammenhang.

FN: Neue Schriftzeichen zu kreieren, bedeutet das auch, an einer neuen Sprache zu arbeiten?

TA: Das ist der erste Schritt! (lacht)

FN: Historisch hat es sich meist umgekehrt abgespielt: Es gab eine gesprochene Sprache, und die sollte dann verschriftlicht werden.

TA: Wir bauen Zeichen, die erst mal noch mit keinem bestimmten Klang verbunden sind. Die chinesischen Schriftzeichen standen urpünglich auch nicht für einen bestimmten Klang, sondern für Bedeutung.

FN: Welche Rolle spielen interdisziplinäre/intermediale Aspekte in eurer Arbeit? Für das CON_TEXT-Projekt wurden ja von der Seite der Literatur her, wenn ich das richtig verstehe, Autoren ausgewählt, die schon bewiesen haben, dass ihr Verständnis von Literatur über das Schreiben und Drucken von Text auf Papier hinausgeht.

TA: Ich denke, ich vermische die Dinge nicht. Ich kann als Ausgangspunkt Musik nehmen, und wo immer ich dann lande, wird es Musik bleiben. In diesem Fall geht es um Literatur, wobei Literatur auch immer klangliche und visuelle Qualitäten mit einschließt. Ich vermische nichts, das ist vielmehr ein Graben nach der Essenz.

© Evgeny Revvo

DM: Ich sehe das ähnlich. Ich würde nicht sagen, dass ich Literatur und Design zusammenbringe. Bei der Konzeption von Werken spielen solche Überlegungen keine Rolle. Ich möchte mich da nicht beschränken. Design und Literatur scheinen auf den ersten Blick auch fast widersprüchlich zu sein und schlecht zusammen zu gehen. Design bemüht sich um Klarheit, wohingegen es in der Literatur eher um Entäußerung geht.

FN: Ihr könnt über Erfahrungen mit dem Literaturleben in mehreren Ländern berichten, in Japan, Finnland, Mexiko. Welche Beobachtungen habt ihr dort gemacht? Im deutschsprachigen Raum gibt es die immer noch dominierende Tradition der sogenannten Lesung. Ein Autor betritt die Bühne, liest aus einem Buch, und hinterher gibt es dann ein Diskussion oder auch nicht.

TA: In Japan ist Literatur ein konservatives Metier. Es geht dabei hauptsächlich um das Publizieren von Büchern. Und die Rezeption spielt sich so ab, dass die Leute die Texte still für sich lesen. Lesungen gibt es auch, das ist total langweilig!

DM: Mexiko ist vielschichtig. Ein Teil der Szene ist richtig konservativ, aber es gibt auch ganz andere Ansätze. Das lässt sich schwer kategorisieren und hängt auch davon ab, ob eine Veranstaltung jetzt überhaupt als Literaturveranstaltung betrachtet wird. Finnland ist ein kleines, ein wenig konservatives Land. Ich finde, dass die Präsenz internationaler Autoren dem finnischen Literaturleben neue Dimensionen hinzufügt und zu Experimenten ermuntert. Es passiert einiges, wenn auch nicht alles toll ist. Was ich in Lateinamerika gut finde, ist die Möglichkeit, dass Autoren mit ganz unterschiedlichen, oft widersprüchlichen ästhetischen Standpunkten, die auf ganz unterschiedliche Weise Literatur machen, an einem Ort zusammenkommen und sich gegenseitig als Schriftsteller respektieren. In Finnland hingegen gibt es eine engere Vorstellung davon, wer ein Autor ist. Sehr oft geht es nur darum, wieviele Bücher jemand publiziert hat.

FN: Kommen wir noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück: Was bedeutet dreidimensionale Literatur? In der konkreten Poesie beispielsweise gibt es Positionen wie die von Josef Bauer, der Buchstaben als dreidimensionale Objekte ausstellt, die eine skulpturale Qualität bekommen. An so etwas könnte man denken.

DM: Ich denke z. B. an die Tradition der Künstlerbücher, an Autoren, die ganz bewusst an allen Dimensionen der Buchgestaltung gearbeitet haben. Sie haben das Buch als Gefäß und das Gefäß als dreidimensionales Objekt betrachtet. Das ist, glaube ich, etwas anderes, als Buchstaben als Skulpturen zu behandeln.

TA: Zweidimensionale Literatur ist Literatur für die Augen. Es gibt aber auch andere, dreidimensionale Traditionen, wenn ich etwa an die Blindenschrift nach Braille denke.