„Greifen Sie zu!“: Eine Performance-Satire mit Gerhild Steinbuch und Elisa Müller

Ein persönlicher Bericht über die zehnte CON_TEXT Veranstaltung mit Gerhild Steinbuch und Elisa Müller, von Christian Gröschel

 

„Mir brauchen Sie gar nix erzählen!“ So beginnt der Herr Karl in dem gleichnamigen Stück von Helmut Qualtinger und Carl Merz seinen Monolog. Herr Karl ist ein Jedermann, der sich erstmal ganz sympathisch gibt, dann aber sich zunehmend als egoistischer Profiteur, kalter Opportunist und ehemals Nazi (aus Eigennutz) herausstellt. Die Autoren hielten mit dieser Figur den Österreichern 1961 einen Spiegel vor und sorgten für großes Aufsehen, fühlten sich viele doch deutlich auf den Schlips getreten.

Die Schriftstellerin und Dramaturgin Gerhild Steinbuch und die Schauspielerin und Performancekünstlerin Elisa Müller erzählen uns heute Abend in der Lettrétage gleich mindestens zwei Geschichten. Mit ihnen halten sie ebenfalls einen Spiegel in der Hand, den sie mal der jeweils anderen, mal dem Publikum vor Augen halten. Die beiden Künstlerinnen mischen nicht nur Fakt und Fiktion, sondern vor allem allerlei Geschichten (und Fragmente von Geschichten) in Schrift, Worten und Bildern. Und während eine Geschichte vorgetragen wird, entsteht die andere als Schrift und Bild an die Wand projiziert und umgekehrt, mal zugleich, mal linear oder in wiederholenden Schleifen, als Kommentar oder als Echo. Die Ränder sind unscharf, die Geschichten überlappen, verheddern und kreuzen sich, ufern hier und da aus. Mal folge ich der einen, dann der anderen, dann beiden oder finde die eine in der anderen wieder. Völlig trennen kann ich sie gar nicht, greife aber hier und da Einzelnes aus dem, was ich lese, höre und sehe, heraus und mache mir meinen eigenen Reim.

Vorn am Schreibtisch sitzt Gerhild Steinbuch und projiziert Texte und Bilder an die Wand. Ihr gegenüber lehnt Elisa Müller. Außerdem stehen da eine große Schüssel Chips und mehrere Flaschen Sekt.

© Evgeny Revvo

Ich habe mit dem Sprechen aufgehört – beginnt Gerhild Steinbuch ihren Text per Beamer oben an die Wand zu schreiben und Elisa Müller stellt klar: „Ich spiele keine Rollen mehr! Ich sage immer, das Leben schreibt die schönsten Geschichten!“ (Oh das wäre schön! lese ich dazu auf der Wand.) Sie hat einen SPD-Mann kennengelernt. (Obacht! steht nun da oben und sehe wenig später ein Foto des strahlenden österreichischen Außenministers Sebastian Kurz). Der Beginn einer großen Liebe?

Nein. „Wir haben in Deutschland ein Problem“ (neues Bild: Kurz grübelt).

Was wie eine Liebesgeschichte beginnt, entwickelt sich zur Geschichte eines SPD-Retters, der die Talfahrt der letzten Jahre als Teil eines Gesamtkunstwerks erklären möchte, um die Partei – und mit ihr das ganze Land – vor dem Untergang zu bewahren.

Nur so könne es gelingen, das Volk aus seinem Zustand grundloser Angst zu befreien. „Das ist das größte Kunstwerk aller Zeiten. Wir müssen jetzt endlich damit anfangen die Öffentlichkeit wieder aufzuklären.“ Erklären wir den Zuwachs der Rechten als bloße Absicht, dann können wir selbst wieder den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln.

Eine geniale Idee?

„Aber ihr seid zu weit gegangen“, sagte sie ihm, „rechts und links sterben die Menschen in Höchstgeschwindigkeit weg, dass ich gar nicht mehr mit dem Zählen hinterherkomme.“

„Das ist das größte Kunstwerk aller Zeiten. Wir müssen jetzt endlich damit anfangen die Öffentlichkeit wieder aufzuklären“, beruhigte er sie, sagt sie, „Wir nehmen die Realität wieder ernst. Und die Menschen im Lande auch!“

Zugleich tröpfeln, dann schwappen Fragmente einer zweiten Parallelgeschichte in Schrift und Bildern beständig und immer aufdringlicher in die erste. Sind es Fragmente der radikalen Inszenierung der ersten Geschichte? Zunächst habe ich sie nur am Rande beachtet, aber dann ergreift die Schrift die Oberhand. Diese Geschichte ist ebenso düster bis haarsträubend und spielt nicht nur in Österreich: Sie handelt von Orpheus und den starken Männern. Die (wenigstens „300“) starken Männer kämpfen für einen neuen Männlichkeitskult – The way of men is the way of the gang (so ein Buchtitel des homophoben, maskulinitätsbesessenen Obermacho Jack Donovan).

Und der kleine Prinz mit der Eisenherz(!)frisur und dem Antlitz des ÖVP-Politikers Sebastian Kurz lächelt bloß dazu (und nicht nur über die SPD) – mal auf Schokoriegeln, mal als Kaiser von Österreich. Er muss ja nichts tun, Krawall machen die wütenden Männer, das wütende Volk, Platz haben hier – in dieser Geschichte – nur die, die wüten, schreien und lügen: die Identitären, die sogenannten neuen Rechten. Scary world theory.

Und in dem Moment, in dem sich beide Geschichten treffen, werden in aller Stille die Rollen zwischen Politik und Kunst getauscht: Politik wird zur Kunst.

Wir sehen ein Zeitungsinterview zur Nationalratswahl in Österreich. Und los geht die Manipulation! Wir haben gelesen: Sebastian Kurz ist ein Ausnahmepolitiker. Wir lesen nun: Sein Aufstieg ist das Kunststückprojekt eines JahrmarktAusnahmekünstklers, der die SPD-Strategie nur geklaut hat. Alles bloß „inszenierte Radikalität“ und Kurz eine bloße Kunstfigur!

Auf der Aufnahme eines Gesprächs zwischen den beiden Künstlerinnen verbürgt Gerhild Steinbuch noch einmal für die „Echtheit“ der Manipulation:

Wie der Herr Karl wolle Kurz doch Österreich gerade dadurch einen Spiegel vorhalten und zeigen, was da los ist. Den Rechtsruck, all das. Und in aller Schärfe: „Das wäre ja auch noch schöner, wenn der Sebastian Kurz kein Künstler wäre!“

© Evgeny Revvo

Durch die simultane Erzählweise in Schrift / Bild und Wort ist die Geschichte von den „starken Männern“ und dem kleinen Prinzen vielleicht die Geschichte, die der SPD-Retter zur Inszenierung erklären möchte und die nun aufgeklärt werden soll. Dieser Wiederherstellung der Wirklichkeit steht heute Abend zugleich die Herstellung einer Fiktion gegenüber. Während eine Geschichte uns von der Fiktion in die Realität führt (und damit letztere gerade retten möchte), zielt die andere Bewegung spiegelverkehrt genau in die entgegengesetzte Richtung: Indem in einer Live-Manipulation aus Politik Kunst und aus der Wirklichkeit Fiktion wird, erfahren wir nur umso schrecklicher, in welchem Wahnsinn sich unsere politische und gesellschaftliche Wirklichkeit tatsächlich bewegt.

Die Liebesgeschichte geht übrigens gut aus: Elisa Müller und der SPD-Mann heiraten bald. Die beiden Performerinnen stoßen an. Die Zuschauer auch.

Auch ich lange – gar nicht versöhnt – zu, nehme mir Geschichten aus dieser sehr kurzen, anspruchsvollen und vielsinnigen Performance heraus und denke: „Das Leben schreibt die schönsten schlimmsten Geschichten.“

 

Anmerkung der Redaktion: Gesprochene Sprache wird hier fett gedruckt wiedergegeben, Durchstreichungen zeigen die Manipulation des ursprünglichen Texts durch die Künstlerinnen.