Im Gespräch: War im Park / Krieg im Park

7 Tage, 2 Künstler*innen, 1 Ort: Im Rahmen des Projekts CON_TEXT erarbeiten jeweils zwei Künstler*innen innerhalb einer Woche in der Lettrétage gemeinsam eine Veranstaltung

Die Lyrikerin und Verlegerin Daniela Seel besuchte die CON_TEXT-Künstlerinnen Charlotte Warsen und Yevgenia Belorusets in der Lettrétage.

 

 

Daniela Seel: Fangen wir mit etwas Schönem an: Was war der bisher schönste Moment in eurer Zusammenarbeit?

Charlotte Warsen: Das waren vielleicht so Witze, die wir nebenher gemacht haben … Also viele Dinge haben aus unterschiedlichen Gründen nicht geklappt, und das war ziemlich witzig schon in der reinen Summierung.

Yevgenia Belorusets: Der schönste Moment für mich war, als wir verstanden haben, was wir hier überhaupt machen können.

CW: Wo das klar wurde?

YB: Ja, wo das klar wurde. Dass wir eine Lösung für diese Falle gefunden haben, in der wir sind.

DS: Das ist ja schon mal ein gutes Stichwort, Falle. Wieso sagst du Falle?

YB: Weil ‒ für dieses Projekt musst du mit einer Künstlerin, einer Dichterin arbeiten, die du vorher nie getroffen, nicht gekannt hast und über die du nicht besonders viel weißt und deren Arbeitsweise du nicht wirklich verstehst. Das passierte mir zum ersten Mal. Und dazu die sehr begrenzte Zeit, in der du etwas fertigstellen musst.

CW: Man hat nur diese sieben Tage kurz vor der Veranstaltung, muss aber schon Wochen vorher ankündigen, was man vorhat, während im Grunde doch der Gag der Sache ist, alles gerade in diesem Raum zu entwickeln, miteinander, aus dem Arbeitsprozess heraus. Aber man muss trotzdem vorher schon sagen, was man machen will.

YB: Man sagt zu, vielleicht weil man hofft, die übliche künstlerische Praxis zu sprengen durch etwas Unerwartetes. Aber wenn das wirklich passieren soll, ist es eine sehr große Herausforderung.

DS: Wie seid ihr damit umgegangen, wie habt ihr diesen Punkt erreicht?

YB: Der Prozess bestand aus sehr vielen „Nicht“, vielem, was wir nicht machen wollen. Für mich war klar, dass ich keine Veranstaltung mit Lesung machen möchte, dass das für mich nicht mehr interessant ist, dass ich keinen Hintergrund für eine Lesung bauen kann als Künstlerin. Für mich ist das Format an sich nicht interessant. Viel interessanter als nach neuen Formaten zu suchen, war es für mich, Inhalte zu finden, die im Gespräch mit Charlotte weiterentwickelt werden könnten. Und trotzdem, finde ich, haben wir, beinahe zufällig, auch ein neues Format entwickelt, obwohl das nicht unser Ziel war.

CW: Fast als Nebeneffekt … Es ging mir ganz ähnlich. Ich hatte auch keine Lust, dass wir hier eine Kulisse bauen und davor lese ich dann, und dann ist es eine andere Lesung, weil es eine bestimmte Kulisse hat. Aber ich hatte schon, was jetzt die Form angeht, ganz lange vor, Gedichte auszustellen oder als Schriftbild an der Wand zu präsentieren. Das ist jetzt das erste Mal, dass ich einen Text an der Wand zeige, und nicht projiziert und museal, sondern wie eine Schriftseite, die auf der Wand ist. Und das, denke ich, werde ich auch noch weiter machen.

YB: Ich habe das schon häufiger gemacht in Ausstellungsräumen.

DS: Mit eigenen Texten?

YB: Mit eigenen Texten.

DS: Das scheint mir etwas, das euch verbindet, dass ihr beide interdisziplinär tätig seid, in verschiedenen Formaten und Medien.

YB: Ich denke, was uns wirklich verbindet, sind literarische und politische Hintergründe, ähnliche Lektüren, die uns inhaltlich inspirieren.

CW: Jeder bildet ja so sein eigenes Feld aus Bildern und Texten, durch die er sich bewegt, und da haben wir viele Überschneidungen. Und jetzt gibt es tausend neue Bücher, die sie mir empfohlen hat, und tausend Texte, die ich ihr empfohlen habe, und die wir jetzt alle lesen müssen in den nächsten Monaten …

DS: Wie du schon gesagt hast, Yevgenia, kann es einem ziemlich komisch vorkommen, so mit jemand Fremdem zusammenzustoßen, für eine so kurze Zeit. Man macht etwas zusammen, aber was passiert danach? Hat das Auswirkungen für die eigene Arbeit, was nimmt man mit?

YB: Wir überlegen, ein kleines Buch daraus zu machen. Oder weitere Ausstellungen und Publikationen. Es ist so schade: Man arbeitet an einer Aussage, und dann wird es nur so kurzfristig gezeigt. Für visuelle Kunst ist es unglaublich kurz.

DS: Sind das erst mal Ideen oder habt ihr schon etwas Konkretes im Sinn?

YB: Es sind nicht nur Ideen, es ist schon eine konkrete Arbeit, die wir gemacht haben, wo wir überlegen, wie diese Arbeit weiterexistieren kann nach dieser Ausstellung.

DS: Ihr habt betont, dass euer gemeinsamer Ausgangspunkt eher inhaltlich als formal ist. Was sind eure Inhalte?

CW: Sie kommen vielleicht von einer ähnlichen Lesegeschichte her, die sich für sehr heterogene Textformen interessiert, von Theorie bis Dichtung, und die wir auf ähnliche Weise bewerten.

YB: Wenn du nach konkreten Inhalten fragst, gibt es in dieser Ausstellung mehrere Schichten. Die erste, offensichtlichste Schicht ist die politische Realität zweier Länder, die unverbindbar sind und doch gegeneinander sichtbar werden. Es geht um den Krieg und die Rezeption des Krieges für mich und ich denke auch für Charlotte.

© Yevgenia Belorusets

CW: Yevgenia hatte eine Fotoreihe ausgesucht, die sie in einem Park in Kiew gemacht hat. Man sieht unter anderem Menschen in Camouflageanzügen und weiß, das hat irgendeine Verbindung zum Krieg, selbst wenn man, ohne den Zusammenhang zu kennen, nur die Bilder betrachtet. Und ich habe Text nicht dazu oder davon ausgehend geschrieben, sondern eigentlich über diese Bilder selbst. Mir vorgestellt, ich bin mit den Augen wandernd, schlendernd in diesem Park, ich stehe vor diesen Bildern und weiß im Grunde gar nicht, was ich da sehe. Wie sind die Bilder aufgebaut, welche Details finde ich, was spricht zu mir, was sagt mir nichts? Oder was will ich ausblenden?

YB: Der Text ist sehr interessant, weil er auch über die Lücken in den Sichtweisen erzählt, wenn wir etwas anschauen. Ich finde, jedes Ereignis, besonders ein unerträgliches, das sich lange hinzieht, wie eine chronische Krankheit, wird eines Tages unsichtbar, in jeder Gesellschaft, nicht nur in einer Nachbargesellschaft, wie Deutschland ein Nachbarland der Ukraine ist, wenn auch nicht unmittelbar geografisch. In der Ukraine selbst geht Krieg aus der Sicht verloren. Warum habe ich in Parks gearbeitet? Es sind Territorien der Erholung, fast alle sind so geblieben, wie sie schon zu Zeiten der Sowjetunion waren, fast unverändert, und im Stadtraum spielen sie eine merkwürdige Rolle. In einer armen Gesellschaft ist der Park einer der wenigen Orte, wo sich unterschiedliche Schichten der Gesellschaft und unterschiedliche Realitäten treffen. Man kann sagen, es ist eine Szene des Lebens, aber auch von dieser Szene verschwinden manchmal wichtige Elemente. Ich habe diese Serie in Momenten der Eskalation des Krieges gemacht, und in diesen Tagen, es war warm, haben sich im Park auch viele Soldaten aufgehalten und erholt. Es waren Soldaten, die vom Donbass, im Osten, nach Hause gefahren sind und scheinbar kurz in Kiew Station gemacht haben, vielleicht um Verwandte zu besuchen oder einfach zur Erholung. Und dann konnte man sie in diesen Parks sehen. Aber das gab es nur bis 2016.

Das Gedicht von Charlotte ist so gebaut, dass man immer wieder in etwas Weißes, Unsagbares hineinfällt, in Pausen zwischen den Wörtern, in etwas, das man nicht sehen kann oder nicht sehen will. Und gerade um diese weißen oder dunklen Flächen der Realität geht es auch in meiner Serie. Es ist auch schön, dass man das Gedicht von Charlotte auf unterschiedliche Weisen lesen kann, Wege, die man durch das Gedicht zieht. Sie arrangiert ihre Gedichte visuell so, dass der Leser immer die Wahl hat zwischen unterschiedlichen Elementen. Man kann das Gedicht nicht so rational wie einen Prosatext lesen. Die Gedichte sind visuell fast wie Hieroglyphen gebaut, so dass man sie zuerst als Bild erfassen kann. Und da ist es eine Verführung, oder ein Verhängnis, zu wählen, welchen Weg durch das Gedicht man findet als Leser. Und damit spielen wir auch in der Ausstellung.

Eine andere Schicht der Ausstellung ist das Sprechen über Sehensweisen und Leseweisen. Um das zu erfahren, muss man zur Veranstaltung kommen und unsere Stimmführung durch die Ausstellung hören.

CW: Ja genau, es geht um eine gewisse Unwegsamkeit des Verstehens und darum, dass in Deutschland auch wenig Wissen herrscht über den Krieg in der Ukraine und man sich auch sehr leicht darauf ausruhen kann, nicht zu verstehen, welche Protagonisten was wollen und wer da jetzt genau welche Motivation verfolgt. Und was mich an Yevgenias Fotoserie auch sehr interessiert hat und was ich gerade gut fand, ist der Umgang damit, dass, je mehr ein Konflikt Menschenleben kostet, je krasser er ist, desto mehr auch der Druck auf bildende Künstler steigt, Bilder zu erzeugen, die dokumentarisch arbeiten oder die Erwartung erfüllen zu sagen, was Sache ist, bestimmte Tatsachen zu vermitteln.

YB: Oder Stellung zu beziehen, zum Beispiel eine Partei durch bestimmte Bilder direkt zu unterstützen.

CW: Oder überhaupt Nähe zu erzeugen, die letztlich gar nicht da ist; Distanz zu überbrücken, Ferne nicht auszuhalten, sondern etwas nah ranzuzoomen, was vielleicht gar nicht ranzoombar ist. Und bei diesem Park ist die Nähe zu dem, was man sieht, erst mal gar nicht klar. Und darum ging‘s dann eben auch in dem Text. Und um die Frage, wie man Gedichte liest in Deutschland und wie man überhaupt gewohnt ist, Text zu lesen oder sich einem Text zu nähern, als wäre er ein Park oder etwas, durch das man sich bewegen kann. Es sind auch nicht unbedingt Zeilen, eher Stellen im Text, von denen man zu anderen Stellen wandern kann oder in diesen weißen Flächen sich bewegen.

Und dann gibt es eine dritte Ebene oder Schicht, und das ist die Führung, die wir angekündigt haben. Das ist eine Audiotour durch diese Ausstellung. Willst du dazu etwas sagen?

YB: Es ist nicht einfach eine Audiotour, sondern ein Spiel mit der Rezeption des Raumes und Bildes und unter anderem auch ein Gespräch darüber, wie wir die Bilder interpretieren, wie wir überhaupt etwas missverstehen können. Und was bedeutet die Anweisung von anderen, die uns begleitet, durch Ausstellungen oder die Territorien von Kunst und Literatur? Die Stimme begleitet den Zuschauer schon vor dem Eingang in den Ausstellungsraum bis in den Ausstellungsraum selbst und führt von einem Bild zum nächsten, durch bestimmte Zeilen und Stellen im Text. Und sie provoziert auch den Zuhörer, sich zu wehren gegen diese Stimme.

CW: Die Stimme, die man da im Ohr hat, ist genauso entschieden wie verlogen und übergriffig, im Grunde genommen, aber auch liebevoll. Man wird an die Hand genommen.

© Yevgenia Belorusets

DS: Wie ist dieser Text entstanden?

YB: Den Text der Führung haben wir zusammen geschrieben.

DS: Die Gedichte sind aber auch Teil der Ausstellung?

YB: Ein Gedicht von Charlotte Warsen ist Teil der Ausstellung, und der Text der Führung ist auch ein Teil.

DS: Und das gemeinsame Buchprojekt, das euch vorschwebt, das würde die Fotos enthalten und das Gedicht und die Texte der Führung? Oder auch mit CD?

YB: Nein, ich denke, es wird nur der Text sein.

CW: Es war eine sehr schöne Phase, als wir einfach zusammensaßen, hier in dem Raum, und angefangen haben, an dem Text zu arbeiten, an der Stimme, die man dann per Knopf im Ohr mit sich trägt und die einen durch die Ausstellung führt, weil wir da ganz ähnliche Vorstellungen hatten, welche Pausen wir wollen, welche Stimmfärbung wir wollen, was wir schreiben wollen, was gesehen werden soll, was befohlen werden soll … Das war einfach ein sehr guter gemeinsamer Schreibprozess.

DS: Und das habt ihr seit letzten Montag, seit ihr hier zusammen seid, gemacht?

CW: Genau. Wie die Wände aussehen, wie der Raum aussieht, das hatten wir da schon abgeklärt. Und dann sind wir zusammen mit Stühlen durch die Ausstellung gewandert und haben die Stimme dazu entwickelt. Das war wirklich völlig Ping-Pong und wirkliches Zusammenarbeiten an etwas Gemeinsamem, an einer gemeinsamen Führung.

DS: Und das habt ihr dann auch zusammen aufgenommen?

CW: Genau.

DS: Wie wird das technisch sein ‒ jeder, der reinkommt, kriegt ein Gerät?

CW: Eigentlich wollten wir einen offiziellen Audioguide haben, wie man sie im Museum kriegt, so einen großen Knochen, den man in der Hand hat, mit Zahlen, und dann steht man vor dem Bild … Aber die gibt’s nur in viel größeren Auflagen, da muss man viel früher Bescheid sagen, dann bespielen die diese Geräte. Da hätten wir schon Monate vorher wissen müssen, was aufgespielt werden soll. Und deswegen haben wir jetzt eine „schlanke Version“, das sind einfach MP3-Player. Davon haben wir so viele, dass der Raum noch betretbar ist, 15 Stück.

DS: Ihr sprecht in der Ankündigung schon von Dialog, und diese sogenannten partizipativen Verfahren sind ja auch sehr en vogue. Trotzdem sind solche Verfahren stark geleitet, durch die Raumorganisation, durch die Künstlerinnen und Künstler, die Freiheit des Partizipierens ist begrenzt. Das Gewaltförmige daran, gerade wenn es eine Stimme ist, gegen die man sich weniger wehren, zu der man sich schlechter verhalten kann, finde ich spannend. Und dass ihr sagt, ihr wollt die Leute auch provozieren, sich dagegen zu wehren.

YB: Auch, ein wenig. Wir wollten auch ein Abenteuer gestalten, ein Abenteuer des Sehens. Man kann sich gegen diese Stimme wehren, aber nur, wenn man ihr auch zuhört, wenn man allen Anweisungen folgt. Darin liegt der Schlüssel, wie man sich wirklich wehren kann. Wenn man nicht tut, was die Stimme zu tun empfiehlt, hat sie kaum einen Sinn.

CW: Die Stimme gibt Interpretationen vor, sie gibt Empfindungen vor, und sie gibt auch Affekte vor. Natürlich verschleiert sie das nicht. Sie ist nicht der Versuch, Leute zu aktivieren, die ihr zu passiv erscheinen.

YB: Wenn man der Stimme zuhört, gibt es einen Weg, sich von ihr zu befreien.

DS: Schon das Dokumentarische ist ja ambivalent. Man sagt dokumentarisch, als ob es objektiv wäre, aber ‒ ihr habt’s selbst schon angedeutet ‒ es ist genauso intentional. Schon der Anspruch zu sagen, etwas ist dokumentarisch, hat oft genug einen propagandistischen Hintergrund oder soll für etwas Bestimmtes eingesetzt werden oder, wie Charlotte ausgeführt hat, um Gefühle oder Nähe zu erzeugen oder als Korrektiv zu Politik. Mir gefällt, wie ihr in dieser Komplexität versucht damit umzugehen. Könnt ihr das noch etwas vertiefen, das Problematisieren des Dokumentarischen und der Ansprüche an Kunst?

© Yevgenia Belorusets

YB: In meinen Arbeiten verneine ich nie die Intention, etwas andeuten zu wollen. Wenn man zum Beispiel ein Thema wählt und darüber spricht, ist es schon propagandistisch. Ich meine, dass ich propagiere, dass man in diese Richtung schaut, wenigstens. Also des Krieges oder der Fotografie oder des Dokumentarischen. Aber ich finde, wichtig ist in diesem Fall zu verstehen, was du machst, dass du diese Mechanismen benutzt. Dann ahnst du, wie weit du gehen kannst.

Diese fotografische Arbeit ist wohl etwas für mich Ungewöhnliches, weil das Narrativ hier schon gebrochen ist ‒ wie ein Gedicht von Charlotte Warsen. Deswegen ist es sehr schwer, sie als eine direkte Aussage zu interpretieren. Aber man kann bestimmte Situationen, Konfrontationen nicht umgehen, weil das davor Wegrennen auch sehr zynisch ist. Das Dokumentarische an sich ist schon auch fiktional, aber für jedes fiktionale Narrativ, das wir aufbauen, tragen wir auch Verantwortung. Und wir teilen sowieso immer etwas mit, fiktional oder dokumentarisch oder ein wenig dokumentarisch. Ich denke, dieses Projekt versucht, das Dokumentarische zu ironisieren, aber hinterlässt doch die Spur des Gesehenen und versucht, darüber zu erzählen, wie subjektiv es auch sei.

CW: Ich glaube, dass es im Sprechen darüber, wie politisch Kunst ist oder wie dokumentarisch Kunst ist, Pseudodialektiken gibt. Es gibt die Fiktion, es gibt das Dokumentarische, und dann ist der nächste Schritt zu sagen, ahh, aber das Dokumentarische ist schon fiktiv usw. Und das wird dann das Nonplusultra dessen, was dazu gesagt werden kann. Was dabei oft wegfällt, sind die Zeitläufe, die das Betrachten einnimmt, und die Zeitläufe, die das Lesen einnimmt, und die Spuren, die das hinterlässt. Die Stimme hat schon diese Stimmfärbung und sie hat ihre Arten, Druck auszuüben oder Gefühligkeit zu erzeugen; der Text macht wieder eine andere Sache; man bewegt sich von einem dieser Orte zu einem anderen und wieder zurück; und unsere Idee war, dass sich das so verspinnt, dass es noch viel unklarer wird und es mehr um diese Wege selbst geht. Nicht so sehr um die Frage: Wo ist das Dokumentarische oder die nackten Tatsachen, wo ist das Reich der Fantasie, auch wenn sie gern einander gegenüberliegend vorgestellt werden.

YB: Wir suchten, denke ich, beide nach einer Deutlichkeit der Erzählung selbst. Die Erzählung hat einen eigenen Wert, und durch unsere Führung wird sie ziemlich deutlich. Sie hat ein Sujet.

CW: Das finde ich auch, wenn es um Gedichte geht, interessant. Was empfinden wir als Erzählung? Das Erzählerische wird traditionell gerne dem Roman zugeschlagen oder der Kurzgeschichte usw., und dann ist natürlich die Frage, was an hervorgerufenen Sinnesempfindungen etc. ist auch Teil einer Erzählung, abgesehen von einem Plot und Räumen, die beschrieben werden etc.

DS: In eurer Selbstbeschreibung in der Einladung siedelt ihr eure Arbeiten zwischen Kunst und Aktivismus an.

CW: Die Pressemitteilung war schon Teil dessen, was wir geplant haben. Wir wussten noch nicht genau, was hier passieren wird, aber wir wussten schon, dass es eher darum gehen wird, das Ganze zu problematisieren ‒ das sind so schreckliche Wörter, also es wirrer zu machen anstatt klarer, im Verlauf des Arbeitsprozesses. Und wir wollten eine Presseerklärung schreiben, die sehr klar sagt, hier geht es um einen bestimmten politischen Konflikt, einen kriegerischen Konflikt. Und auch dieser Dialog zwischen Arbeiten, das sind alles so Worthülsen aus Pressemitteilungen über Kunst oder Artist Statements. Wir wollten halt eine Pressemitteilung machen, die nicht komplett bekloppt klingt, sondern auf eine Art sehr klar, so dass die Leute denken, oh toll, gehe ich jetzt mal in eine politische Ausstellung, und es sind auch noch Gedichte dabei, super.

YB: Wir wollten in der Pressemitteilung nicht über das Formale reden, über das Dokumentarische oder Museale.

DS: Das ist jetzt ein Aspekt, den ich auch spannend finde: dass ihr euch im Sprechen darüber hauptsächlich in der bildenden Kunst verortet und sagt, das greift Slogans und PR-Bullshitbingo aus der bildenden Kunst auf, und auch sagt, das Projekt ist eine Ausstellung ‒

CW: Eine Führung.

DS: Eine Führung. Und es ist aber dezidiert in einem literarischen Kontext angesiedelt. Die Lettrétage ist ein Literaturhaus, und bei CON_TEXT stehen von der Selbstbeschreibung der gesamten Projektreihe her auch Text und Literatur im Vordergrund. Wie denkt ihr, wirkt diese Verschiebung des Kontextes zurück auf den Umgang mit euren Arbeiten?

YB: Ich schreibe auch, wir arbeiten beide mit Texten.

CW: Das würde ich auch sagen: Wir hantieren beide sowohl mit Bildern als auch mit Worten. Ich kann und will das im Arbeiten oft gar nicht trennen ‒ ich kann nur für mich sprechen, aber ich glaube, es geht dir ganz ähnlich ‒ und denke, dass es vielen Menschen so geht. Nur dass es eben Räume und Szenen gibt, die der bildenden Kunst zugeschlagen werden oder der Literatur.

YB: Meine Ausstellungen finden manchmal in Literaturhäusern statt. Aber in diesem Fall spielt ohnehin die Sprache ‒ Rede und Text ‒ eine sehr wichtige Rolle. Diese Ausstellung ist von Textuellem, Sprachlichem dominiert. Ich glaube, ein Publikum, das ins Literaturhaus geht, um eine literarische Veranstaltung zu besuchen, wird in diesem Fall gar nicht spüren, dass es in einem Ausstellungsraum ist. Wir nennen es so, weil der Raum gestaltet ist und die Gestaltung fixiert. Nichts verändert sich. Es ist keine Lesung, keine theatralische Aktion. Deswegen nennen wir es Ausstellung.

CW: Die Idee der Führung erinnert an Formate, wo Wissen vermittelt wird, Fakten vermittelt werden, bei einer Parkführung, Museumsführung etc. Du würdest dir hier den Knopf ins Ohr setzen und dann würdest du genaue Ansagen kriegen, was du zuerst betrachten sollst, was du dazu zu empfinden hast, was du dort siehst, und das wird vielleicht nicht damit übereinstimmen, was du siehst, und dann wirst du irgendwann vor dem Fenster stehen und dir wird gesagt, welchen Park du aus dem Fenster siehst.

YB: Aber wir können jetzt nicht alles nacherzählen.