Text, Raum, Zeit

Ein persönlicher Bericht über die siebte CON_TEXT Veranstaltung mit Rike Scheffler und Jochen Roller, von Florian Neuner

© Evngeny Revvo

Wer sich in diesen Tagen mit den Besuchermassen durch die Ausstellungsräume der documenta bewegt, der wird ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Art der Rezeption, wie sie zahlreiche der dort versammelten Kunstwerke erheischen, und der tatsächlich stattfindenden Wahrnehmung kaum übersehen bzw. sich auch selbst in der Lage wieder finden, dass er vielen Arbeiten – aus Zeitgründen – kaum gerecht werden kann. Auf Monitoren und Leinwänden werden teils stundenlange Filme gezeigt, andere Künstler breiten ganze Archive und umfangreiche Dokumentationen vor den Besuchern aus, deren Lektüre oder auch nur einigermaßen adäquate Wahrnehmung ebenfalls einen beträchtlichen Zeitaufwand bedeuten würde. In der Regel verlassen die Besucher die Filmvorführungen, in die sie geplatzt sind, nach wenigen Minuten wieder. Künstler und Kuratoren scheinen diese Rezeptionsbedingungen entweder nicht zu berücksichtigen oder aber einen idealen Rezipienten zu imaginieren, der alle Zeit der Welt mit nach Kassel bringt. Wo Zeit- und Raumkünste sich berühren, entstehen oft Friktionen – manchmal aber tun sich auch Chancen für veränderte Wahrnehmungen auf. Gewissermaßen den umgekehrten Fall zur in Kunsträumen präsentierten Zeitkunst konnte man jüngst in der Lettrétage erleben: einen mit Leichtigkeit inszenierten Stimm-Klangraum. Die Kooperation von Rike Scheffler, der Autorin, mit dem Choreographen Jochen Roller ließ zunächst eher einen gestalteten Zeitraum, eine Performance, eine Aufführung erwarten. Die beiden luden allerdings zu einer Installation ein und verwandelten mit der Lettrétage einen Ort, an dem sonst die Zeitkunst Literatur im Mittelpunkt steht, in einen Kunstraum. Sie trafen dort auf ein Publikum, das sich an die ungewohnte Situation, hier mit einer Rauminszenierung zu tun zu haben, erst einstellen musste, als es um 20 Uhr hereingebeten wurde.

© Lettrétage

Zunächst hätte man denken können, dass es – wie schon im vorangegangenen CON_TEXT-Beitrag von Cristian Forte und Harald Muenz – wieder um Abfall gehen würde, war das Fenster neben der Eingangstür doch mit Streifen geschredderten Papiers zugeklebt. Auf der Innenseite unter dem Fenster stand eine Kiste, aus der ebenfalls Papierstreifen quollen – nicht irgendein Papier freilich, sondern sichtbar mit Text bedrucktes. Ein Bild, das vielleicht als Ausdruck eines rigiden Reduktions- und Auswahlprozesses interpretiert werden darf, der dieser Installation vorausgegangen sein könnte. Ähnlich wie Forte/Muenz arbeiteten auch Roller/Scheffler mit stark reduziertem sprachlichen Material. Neben weiteren kleinen Interventionen im Raum, auf die noch einzugehen sein wird, war ein mit Gazevorhängen abgetrennter, rechteckiger Bereich, schräg gegenüber der Bar, der eigentliche Ort des Geschehens. Als das Publikum die Lettrétage betrat, war zunächst nur eine dezente Soundscape aus Vogelstimmen zu hören. Irgendwann setzten menschliche Stimmen ein, die aus dem Bereich hinter den Vorhängen zu kommen schienen. Das war das Signal an die Besucher, die Klanginstallation hinter dem Vorhang zu betreten und den Blick in den mit Schaumstoff ausgelegten Bereich zu wagen, in dem sechs Lautsprecher in unterschiedlichen Höhen von der Decke hingen. Auf dem weichen, mit Schaumstoff ausgelegten Boden, der auch zum Sitzen und Liegen einlud, waren an verschiedenen Stellen Sensoren mit der eindeutigen Aufforderung »touch me« angebracht, und es dauerte nicht lange, bis das Publikum selbst experimentierend oder auch erst mal nur vorsichtig beobachtend herausgefunden hatte, dass man durch Berührung dieser Sensoren Soundfiles abspielen konnte: eine weibliche und eine männliche Stimme, die Fragmente aus poetischen Texten rezitierten wie »ein hungriger mond«, »jemand hat wärme liegen lassen«, »im badischen singsang«, »zögernd sich öffnendes becken, schweiß«, »wir erinnern uns gut« oder »wie trifft der ton auf deine haut«.

Bald war der Spieltrieb geweckt und es entstand ein vielstimmig sich überlagerndes Stimmengeflecht – eine vergleichsweise simple Versuchsanordnung, mit der sich komplexe und überraschende Situationen gestalten ließen. Und wenn man den Auslöser mehrmals drückte, hatte man auch die Möglichkeit, die Stimmen abzuwürgen bzw. sich selbst ins Wort fallen zu lassen. Nach vielleicht einer halben Stunde nahm die Dichte der sich überlagernden Textfragmente schon wieder hörbar ab, Lücken und Pausen entstanden. Das Publikum wechselte zur Bar oder in den Hof, kehrte aber vielleicht noch einmal zurück, um in einem intimeren Rahmen mit weniger Agierenden mit der Installation weiter zu spielen. Die Künstler indes hielten sich im Hintergrund bzw. mischten sich unter das Publikum und gaben sich nicht zu erkennen. Eine weitere Ebene fügten Roller/Scheffler ihrer interaktiven Klanginstallation hinzu, indem sie am Boden neben den Sensoren Plaketten anbrachten, auf denen »Elfenbeinröhrling (eßbar, sehr selten)«, »Birkenreizker (scharf, eßbar nach besonderer Zubereitung) oder »Kupferroter Klumpfuß (Wert unbekannt)« zu lesen war. Pilze dieses Namens gibt es wirklich, und gemeinsam mit den Vogelstimmen im Hintergrund konnte so der Eindruck entstehen, man befände sich im Wald auf der Suche nach Sprachklang. In einer kleinen Kühlbox außerhalb der eigentlichen Klanginstallation befanden sich nicht nur Eiswürfel, sondern auch Zettel mit Worten wie »RÜCKEN«, »MOND«, »GERUCH« oder »SINGSANG«. Ein Vorhang trennte den vorderen Raum auch von dem zum hinteren Raum führenden Durchgang mit den Toilettentüren, auf denen kleine Tafeln angebracht waren: »Pendelaufhängung« bzw. »Aufhängen eines Nistkastens« nebst Erläuterungen. Der zweite, hintere Raum war mit blickdichtem Stoff abgetrennt und wurde nicht bespielt.

Termini technici, gleichsam als Fundstücke, waren das strukturierende Element, das die Installation mit diesen weiteren Interventionen verband. Als Titel für ihren Beitrag wählten Rike Scheffler und Jochen Roller ebenfalls einen solchen Begriff: memory foam ist die Bezeichnung für Kunststoffe, die einen sogenannten Formgedächtniseffekt aufweisen und sich trotz zwischenzeitlicher Umformungen an frühere Zustände »erinnern« können. Wäre diese Arbeit im Rahmen irgendeiner Kunstausstellung gezeigt worden, das Publikum wäre sicherlich wesentlich schneller mit ihr »fertig« gewesen, hätte nicht so lange mit den Klängen und Überlagerungen experimentiert und auch weniger Erfahrungen mit der Klanginstallation gemacht. So erweist sich das Aufeinandertreffen von Zeit- und Raumkünsten unter den Voraussetzungen der CON_TEXT-Reihe als Chance, einer Rauminszenierung größere Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, als das in einem anderen Rahmen möglich wäre. Über die anvisierten drei Stunden vermochten oder wollten die Besucher, die großteils pünktlich wie zu einer Lesung um 20 Uhr erschienen waren, die Installation dann aber doch nicht zu bespielen, die auf einer Großausstellung der bildenden Kunst übrigens besser funktionieren würde und rezipierbar wäre als viele der Arbeiten, die man in solchen Ausstellungen zu hören und sehen bekommt.